[GGUA] OVG NRW: Wohnsitzregelung für anerkannte Flüchtlinge zum Teil rechtswidrig – jetzt Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage stellen!

Die Entscheidung des OVG NRW, wonach die Wohnsitzauflage der NRW-Landesregierung zum Teil rechtswidrig sei, lässt sich möglicherweise auch auf Sachsen-Anhalt übertragen.

Auch in Sachsen-Anhalt erfolgt die Zuweisung typisierend nach einem so genannten „Integrationsschlüssel“. Nach dem Urteil des OVG ist eine Wohnsitzauflage nur zulässig, wenn diese der „Versorgung mit angemessenen Wohnraum“ dient und wenn eine Einzelfallentscheidung getroffen wird, in der das persönliche und öffentliche Interesse abgewogen wird und die konkrete Zuweisung der „Förderung seiner nachhaltigen Integration nicht entgegensteht.“

Wenn sich dies im Einzelfall begründen lässt, sollte eine entsprechende Klage angestrengt werden.

Weitere Hinweise zum OVG-Urteil NRW entnehmen Sie bitte den nachfolgenden Beratungshinweisen der GGUA.

Zum mehrsprachigen Infoblatt zur Wohnsitzregelung in Sachsen-Anhalt (Stand: 26.01.2017)

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OVG NRW: Wohnsitzregelung für anerkannte Flüchtlinge zum Teil rechtswidrig – jetzt Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage stellen!

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Liebe Kolleg*innen,

das Oberverwaltungsgericht NRW hat am 4. September 2018 in einem Urteil entschieden, dass zumindest ein Teil der NRW-„Aus­länderwohnsitzregelungsverordnung (AWoV)“ (hier zum Download inkl. Verordnungsbegründung) rechtswidrig und daher nichtig ist. Es handelt sich um § 5 Abs. 4 AWoV, nach dem anerkannte Schutzberechtigte in der Regel für diejenige Kommune eine Wohnsitzauflage erhalten, in die sie schon während des Asylverfahrens zugewiesen worden sind. Als Folge hat das OVG die Wohnsitzauflage für einen klagenden anerkannten Flüchtling aus dem Irak aufgehoben. Das Urteil selbst liegt noch nicht vor, sondern nur eine Pressemitteilung des OVG.

Zum Hintergrund
Das OVG begründet seine Entscheidung völlig zurecht damit, dass die NRW-Regelung in § 5 Abs. 4 AWoV die gesetzlichen Vorgaben aus § 12a Abs. 3 AufenthG und den Sinn und Zweck des Gesetzes nicht beachtet: Danach ist eine Wohnsitzauflage nämlich nur dann als Ermessensentscheidung zulässig, wenn sie objektiv der „Förderung seiner nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland“ dient. Insbesondere müssen durch die konkrete Zuweisung in diese spezielle Kommune die Versorgung mit angemessenem Wohnraum, der Erwerb von Sprachkenntnissen A2 und „unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden“. Die Bezirksregierung Arnsberg, die für die Wohnsitzregelung zuständig ist, müsste also stets eine Einzelfallentscheidung treffen, in der die Situation in der konkreten Kommune mit der Situation in anderen Kommunen verglichen und die individuelle Lage des Betroffenen berücksichtigt wird. Diese Einzelfallprüfung erfolgt jedoch nicht, da der nun für nichtig erklärte § 5 Abs. 4 AWoV diese nicht vorsah.

Daher sind viele Wohnsitzauflagen verhängt worden, die nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe nicht gefördert, sondern diese im Gegenteil sogar erschwert haben. Sie dienten faktisch allein einer „gleichmäßigen“ Verteilung von Sozialleistungskosten und waren dem Druck einiger Kommunen geschuldet. Dies ist in vielen Fällen integrationspolitisch kontraproduktiv und widerspricht auch europarechtlichen Vorgaben. Eine Wohnsitzauflage widerspricht für Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis zudem per se Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt).

Was heißt das für die Praxis?

Das OVG hat zwar eine entscheidende Rechtsgrundlage für die Wohnsitzauflage (nämlich § 5 Abs. 4 AWoV) für nichtig erklärt. Die darauf beruhenden Verwaltungsakte sind jedoch wohl nicht automatisch ebenfalls nichtig, sondern „nur“ rechtswidrig. Das heißt: Sie müssen in jedem Einzelfall auf Antrag aufgehoben oder geändert werden. Daher sollten nun betroffene Schutzberechtigte einen Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage an die Bezirksregierung Arnsberg stellen. Hierfür sollten möglichst auch Argumente vorgetragen werden, die zusätzlich gegen die Wohnsitzauflage sprechen, wie z. B.:

  • Es ist bereits eine Wohnung an einem anderen Ort vorhanden
  • Familienangehörige wohnen am anderen Ort, auch, wenn es sich nicht um „Kernfamilie“ handelt
  • Es gibt bessere Unterstützungsinfrastruktur (Sprachkurse, ehrenamtliche Netzwerke oder Beratungsangebote…) an einem anderen Ort
  • Kinder gehen an einem anderen Ort zur Schule oder in den Kindergarten
  • Es gibt bessere Aussichten auf einen Arbeitsplatz oder es wird bereits eine Erwerbstätigkeit ausgeübt, auch wenn diese die Schwelle von 730 Euro Monatseinkommen unterschreiten sollte.

Auch ohne solche Argumente muss die Wohnsitzauflage unserer Meinung nach aufgrund der nichtigen Rechtsgrundlage aufgehoben werden, aber sie können diesen Anspruch untermauern.

Was heißt das für den Sozialleistungsanspruch?

Falls schon ein Umzug erfolgt ist, bevor die Wohnsitzauflage aufgehoben oder geändert worden ist, verweigert das Jobcenter bzw. Sozialamt oft die Leistungen. Nach dem Urteil des OVG dürfte dies jedoch nicht mehr möglich sein, da die kommunale Wohnsitzauflage für den Ort der asylverfahrensrechtlichen Zuweisung rechtswidrig ist. Dies sollte der Sozialbehörde gegenüber deutlich gemacht werden. Zumindest besteht Anspruch auf vorläufige Leistungen gem. § 43 SGB I bzw. § 41a SGB II. Diese müssen aufgrund der OVG-Entscheidung auch länger als die von der BA regelmäßig vorgesehenen sechs Wochen erbracht werden.

Bei Leistungsverweigerung sollte ein Eilantrag beim Sozialgericht gestellt werden.

Die Leistungsverweigerung durch das Jobcenter mit Verweis auf eine rein landesbezogene Wohnsitzauflage (ohne dass auch eine Wohnsitzauflage für eine konkrete Kommune bestehen würde) hatte bereits vor einiger Zeit das Landessozialgericht NRW vorläufig für rechtswidrig erklärt (LSG NRW: L 7 AS 2184/16 B ER & L 7 AS 2185/16 B, Beschluss vom 12.12.2016 (7. Senat).

Hat das OVG alle Wohnsitzauflagen für rechtswidrig erklärt?
Nein. Das OVG hat in einem Einzelfall entschieden und zugleich die Rechtsgrundlage in § 5 Abs. 4 AWoV für nichtig erklärt. Diese bezieht sich nur auf Wohnsitzauflagen gem. § 12a Abs. 3 AufenthG – das heißt auf diejenigen Fälle, in denen die Betroffenen schon im Asylverfahren einer Kommune zugewiesen worden waren.

Falls die Betroffenen noch in einer Landeseinrichtung oder in einer kommunalen Gemeinschaftsunterkunft leben, kann eine Wohnsitzauflage innerhalb von sechs Monaten nach Anerkennung jedoch auch nach § 12a Abs. 2 AufenthG verhängt werden. Hierzu hat sich das OVG in der Pressemitteilung nicht geäußert. Allerdings ist auch diese Wohnsitzauflage nur zulässig, wenn diese der „Versorgung mit angemessenem Wohnraum“ dient und wenn eine Einzelfallentscheidung getroffen wird, in der das persönliche und das öffentliche Interesse abgewogen wird und die konkrete Zuweisung der „Förderung seiner nachhaltigen Integration nicht entgegensteht“. Auch hier dürften gute Chancen bestehen, mit Verweis auf die OVG-Entscheidung gegen die Wohnsitzauflage vorzugehen, die in NRW in diesen Fällen typisierend nach einem so genannten „Integrationsschlüssel“ verhängt wird.

Die „gemeindescharfe Wohnsitzauflage“ entsteht dabei nie automatisch mit Anerkennung als Flüchtling, sondern erst durch einen Verwaltungsakt (Bescheid) durch die Bezirksregierung Arnsberg. Mit Zuerkennung einer Schutzberechtigung bzw. der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG dürfen Betroffene aus einer Landeseinrichtung ausziehen. Falls sie dies tun, bevor sie einen Bescheid über eine Wohnsitzzuweisung erhalten haben, können sie sich in NRW den Wohnort frei wählen. Das NRW-Flüchtlingsministerium hat per Mail bestätigt, dass anerkannte Schutzberechtigte „innerhalb des Bundeslandes, in dem sie anerkannt wurden, freizügig (sind) und sich in einer Kommune ihrer Wahl niederlassen (dürfen). Sie sind nicht verpflichtet, mit einem eventuell geplanten Umzug zu warten, bis sie eine Wohnsitzzuweisung erhalten haben.Liegt die Wohnsitzzuweisung allerdings vor, so ist sie verbindlich.“

Unabhängig von der OVG-Entscheidung hatte das Land NRW bereits im Mai per Erlass geregelt, dass bei einem Frauenhausaufenthalt an einem anderen Ort die „gemeindescharfe“ Wohnsitzauflage innerhalb NRWs aufzuheben ist.

Anders sieht es aus mit der bundeslandsbezogenen Wohnsitzauflage gem. § 12 Abs. 1 AufenthG. Diese entsteht nämlich nicht durch einen Verwaltungsakt der Bezirksregierung Arnsberg, sondern per Gesetz. Das OVG hält sie aus integrationspolitischen Gründen wohl für zulässig. Für den Umzug in ein anderes Bundesland werden daher bis auf weiteres die Ausnahmegründe aus § 12a Abs. 5 AufenthG vorgetragen werden müssen. Diese sind

  • die Familienzusammenführung in einem anderen Bundesland,
  • eine Arbeitsstelle mit einem Einkommen von mindestens 730 Euro Nettoeinkommen für ein Familienmitglied,
  • ein Ausbildungsplatz, Studienplatz, berufs- oder studienvorbereitende Maßnahmen für ein Familienmitglied oder
  • das Vorliegen eines Härtefalls (z. B. Kindeswohl, Gewaltschutz, Behinderungen, Betreuungsbedarf usw.).

Auch zur Wohnsitzauflage nach § 12 AufenthG (die zum Beispiel für Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verhängt werden kann), hat sich das OVG nicht geäußert.



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