[Pressemitteilung] Chancenaufenthaltsrecht: Halbjahresbilanz

Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt zieht nach dem ersten Halbjahr Chancenaufenthaltsrecht Bilanz

Seit 01.01.2023 gilt deutschlandweit das neue Chancenaufenthaltsrecht nach §104c AufenthG, das langjährigen Geduldeten eine Perspektive geben soll. Schon vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes äußerten Migrationsrechtsanwält*innen und Menschenrechtsorganisationen Kritik, dass das Gesetz an zentralen Stellen fatale Lücken und Ungenauigkeiten aufweist. Eine nun vorliegende Kleine Anfrage im Landtag Sachsen-Anhalts zeigt auf, wie unterschiedlich die Behörden mit den ihnen vorliegenden Anträgen umgehen.

Berichte von Beratungsstellen und Antragsteller*innen sowie die Zahlen aus der Kleinen Anfragen zeichnen ein deutliches Bild: Unklarheiten und Schwachstellen im Gesetz geben Behörden einen großen Entscheidungsspielraum, der in Sachsen-Anhalt häufig zulasten der Antragsteller*innen ausfällt. Ein Großteil der Personen, die bereits eine Ablehnung oder die Mitteilung über eine beabsichtigte Ablehnung erhalten haben, scheitert an formellen Erfordernissen, wie z.B. der fehlenden Duldung.

„Es muss daher sichergestellt werden, dass die Ausländerbehörden eine Duldung ausstellen, wenn eine Abschiebung nicht vollzogen werden kann. Grenzübertrittsbescheinigungen dürfen nicht dafür verwendet werden, einen Duldungsanspruch auszuhöhlen und so den Weg in das Chancenaufenthaltsrecht zu verwehren.“ so Migrationsrechtsanwalt Thomas Stöckl.

In Sachsen-Anhalt haben mittlerweile ca. 60 % der potentiell Berechtigten einen Antrag auf Chancenaufenthalt gestellt. Doch die Unterschiede zwischen den Kommunen sind massiv: Während im Burgenlandkreis, Mansfeld-Südharz und Stendal alle bisher bearbeiteten Anträge positiv beschieden wurden, gab es im Altmarkkreis Salzwedel und dem Harz bisher keinen einzigen Entscheid.
»Geflüchtete dürfen nicht selbst entscheiden, wo sie hinziehen – ist bleibt ein Lottospiel. Bleiberechtsregelungen und -möglichkeiten dürfen von den Behörden nicht weiter unterwandert werden! Es muss sofort gehandelt werden und von höchster Stelle Anpassungen und unmissverständliche Weisungen vorgelegt werden. Alle reden über Arbeitskräftemangel und Anwerbung aus dem Ausland – wie wär’s endlich mit der Einbindung jener, die schon hier sind?!« erklärt Helen Deffner, Sprecherin des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt.

Unsere Forderungen zur Anwendung des Chancenaufenthaltsrechts in Sachsen-Anhalt:

  • Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, müssen eine Duldung erhalten. Keine Ausstellung von nicht gesetzlich geregelten Papieren wie Grenzübertrittsbescheinigungen o.ä.
  • Keine Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung (z.B. Abschiebungen oder Botschaftsanhörungen) während der Bearbeitungsdauer nach Antrag auf den Chancenaufenthalt.
  • Menschen, die bereits einen Pass abgegeben haben, dürfen dafür nicht bestraft werden.
  • Keine Einleitung von Strafverfahren wegen Passlosigkeit oder illegalem Aufenthalt nach Antragstellung.
  • Keine Einleitung von Ausweisungsverfahren wegen Nichtmitwirkung bei der Identitätsklärung nach Antragstellung.
  • Das Datum der Erteilung des Aufenthaltstitels muss der Aushändigung des Aufenthaltstitels sein, um sicherzustellen, dass die 18 Monate Geltungszeitraum des § 104 c AufenthG nicht durch die Bearbeitungszeit der Behörden verrinnen.
  • Großzügige Erteilung: Der Entscheidungsspielraum ist im Sinne der Antragstellenden zu nutzen.
  • Sollte sich bei einer Person mit Chancenaufenthalt nach dem Erteilen dieses Titels herausstellen, dass über die Identität getäuscht wurde, soll das Chancenaufenthaltsrecht bestehen bleiben – laut Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums gilt es der „Ehrlichmachung“.

Unsere Forderungen an das Bundesinnenministerium und die Gesetzgeberin:

  • Nicht nur ‚Geduldete‘, sondern alle „vollziehbar ausreisepflichten Ausländer“ sollen das Chancenaufenthaltsrecht erhalten können. Dies muss im Gesetzestext bzw. Anwendungshinweisen konkretisiert werden.
  • Die Anzahl der Tagessätze muss auf 60/120 Tagessätze, statt 50/90 als Ausschlusskriterium erhöht werden.
  • Die Formulierung des § 104c AufenthG muss von „soll erteilt werden“ zu „ist zu erteilen“ geändert werden, um Ermessenspielräume von Behörden zu vermeiden.

Pressekontakt: Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt, mail: info@fluechtlingsrat-lsa.de, tel. 015738303546

Übersicht der Bewilligungs- und Ablehnungszahlen aus der Kleinen Anfrage der LINKE



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