[Offener Brief] Libyen – Dramatischer Appell an die italienische Regierung

Italienische und europäische Organisationen fordern die Aufnahme von Geflüchteten aus Libyen und anderen EU-Frontstaaten.

In Libyen erleiden gestrandete oder beim Fluchtversuch über das Meer gefangene Geflüchtete ein unbeschreibliches Martyrium von Internierung, Versklavung, Menschenhandel, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung, Krankheit, Elend, Hunger und Tod. Mit einem Schreiben an die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese appellieren zahlreiche italienische und europäische Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen – darunter der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt – umgehend einen Korridor zur Aufnahme der schutzbedürftigen Menschen in Italien und Europa zu gewährleisten.

Sehr geehrte Frau Innenministerin Lamorgese,

wir wissen, dass Ihr Ministerium seit sechs Monaten an der Aktivierung eines wunderbaren Projekts für 5 Evakuierungsflüge von Libyen nach Italien arbeitet.

Die Organisatoren, der Bund der Evangelischen Kirchen in Italien, die Tavola Valdese und die Gemeinschaft Sant’Egidio, sind die gleichen, die bereits seit Jahren erfolgreich syrische Flüchtlinge aus dem Libanon evakuieren und daher alle Papiere haben, um die Aufnahme und Umsiedlung von Menschen in verschiedene europäische Länder zu managen, ohne den italienischen Staat zu belasten.

Diese humanitären Korridore ermöglichen Menschen, die aus ihren Ländern geflohen sind
und sich in einer prekären Lage befinden, Zugang zu ihrem Recht auf Asyl über sichere und legale Wege zu erhalten. Der Präsident der Republik selbst, Sergio Mattarella, hat sie als „einen Moment der konkreten Verwirklichung der Prinzipien der italienischen Verfassung“ bezeichnet.

Wir wissen, dass jedes Projekt seinen eigenen Weg hat, aber in Anbetracht der humanitären Notlage in Libyen, bitten wir Sie, sofort die die Genehmigung zu erteilen, die 5 Flüge zur dringenden Evakuierung durchzuführen.

In den letzten Wochen sind mehrere Menschen, die ein Anrecht auf einen Platz in diesen Flügen gehabt hätten, gestorben. An Krankheiten, Hunger und Verlassenheit. Unter ihnen waren auch ein Minderjähriger und ein eineinhalbjähriges Mädchen.

Die Bedingungen der Migrant*innen in Libyen werden von Tag zu Tag schlimmer. Hunderte von Frauen und Männern überleben hinter den Gittern der grausamen Lager oder auf der Straße, zum Beispiel in der gefährlichen Gegend von Tripolis. Viele haben kleine Kinder. Sie alle sind der Gnade einer Regierung ausgeliefert, der libyschen Regierung, die sie als minderwertige Wesen betrachtet, die als Arbeitskräfte in einem wiederbelebten Wirtschaftssystem, das auf der Aufteilung in Rassen und der Versklavung der Letzteren basiert.

Wenn dies ein abstrakter Alarm zu sein scheint, lassen Sie uns Ihnen einige reale Geschichten erzählen von Menschen, die wir zu evakuieren versuchen:

  • Maryam, Samira, Fatima und viele andere Mädchen, denen wir folgen, nachdem sie gefangen genommen wurden, wurden von Wachen oder Lagerleitern als Sklaven verkauft (sogar von Camps, die von AICS-Projekten finanziert werden!) für Beträge um 1.500 Dollar. Sie verkauften sie an private libysche Bürger, um sie tagsüber als unbezahlte Dienstmädchen zu benutzen, nachts vergewaltigten sie sie.
  • Paul, Sebastian und eine große Anzahl anderer Jungen, die 2020 auf See gefangen genommen wurden, wurden vom ordentlichen Gericht in Tripolis verurteilt. Gefesselt, mit verbundenen Augen und ohne Verteidiger. Von dort aus waren sie bestimmt zur Zwangsarbeit: die einen als Arbeiter zum Bau öffentlicher und privater Werke, die andern als Sklavensoldaten.

Wie Sie vielleicht wissen, wird Artikel 6 des libyschen Gesetzes 19/2010 über illegale Einwanderung immer noch von der Regierung des Libyschen Nationalen Abkommens (GNA) angewandt. Dieses Gesetz sieht für das Verbrechen der illegalen Einwanderung als Strafe Gefängnis mit Zwangsarbeit vor.

Zur Sklaverei kommt noch der Hunger hinzu. Und die daraus resultierenden Krankheiten. Selbst diejenigen, die es geschafft haben, aus den Gefängnissen, der Zwangsarbeit und Folter zu entkommen, sterben. Vor allem die Kinder. Sie leiden an Sehschwäche, Herzproblemen und einer Reihe von Krankheiten, die durch ihren Zustand der Unterernährung verursacht wurden.

In Tripolis haben die Migranten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Wir begleiten schwangere Frauen, die noch nie einen Arzt gesehen haben und gezwungen sind, im Versteck zu gebären, weil ein anderes libysches Gesetz die sofortige Verhaftung von Frauen vorsieht, die ohne Ehemann Kinder bekommen. Letzten Sommer haben sie ein Mädchen verhaftet, das wir kennen: Ihr einziger Fehler war, in ein Krankenhaus in Tripolis zu gehen, um nicht bei der Geburt zu sterben. Sie wurde wenige Stunden nach der Geburt ihres Kindes ins Gefängnis gebracht.

Wenn wir nicht eingreifen, werden diese Menschen in Libyen sterben, oder sie werden versuchen, das Meer zu überqueren, mit den Risiken, die wir gut kennen.

Europa, wie in der von Juan Branco und Omer Shatz eingereichten Klage vor dem Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Juni 2019 dargestellt, ist bewusst verantwortlich für die Todesfälle durch Ertrinken, die Zurückweisungen sowohl in Libyen als auch entlang der Balkanroute und die damit verbundenen Verbrechen an den zurückgewiesenen Menschen. Wir sehen die italienische Politik, die herzliche Beileidsbekundungen für besonders dramatische Fälle, wie den den Tod des kleinen Joseph oder die Aussetzung von Flüchtlingen im Lager Lipa veröffentlicht, aber wir können nicht umhin, ihre Ignoranz zu bemerken, wenn es darum geht zu handeln.

Der COVID-19-Notstand wird zu oft als Vorwand benutzt, um humanitäre Korridore zu blockieren. Doch die jüngsten Erfahrungen aus dem Libanon haben uns gezeigt, dass es nichts Sichereres gibt als legale Korridore, die eine gründliche medizinische Kontrolle der Flüchtlinge bei der Einreise in unser Land beinhalten.

In ein paar Jahren wird das, was wir heute berichten, in den Geschichtsbüchern stehen. Aber nicht nur das, was wir gesagt haben, wird dort stehen, sondern auch und vor allem, was wir getan – oder nicht getan – haben, um das zu verhindern.

Heute, mit diesem Brief, bitten wir dringend darum, einen legalen und sicheren Kanal zwischen Libyen und Italien zu öffnen, aber auch eine Änderung der italienische Migrationspolitik zu vollziehen und sie zum Vorbild für den Rest Europas zu machen.

(Übersetzung FR Hamburg)

Erstunterzeichnende

Original des Briefes: saritalibre.it/lettera-aperta-lamorgese-corridoi-umanitari-libia/



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