[Pressemitteilung] 27.11.20 | »21 Jahre haben wir hier in Deutschland gelebt. Und dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür und nimmt meine ganze Familie mit!«

Pressemitteilung des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.

Halle (Saale), 27.11.2020

 »21 Jahre haben wir hier in Deutschland gelebt. Und dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür und nimmt meine ganze Familie mit!« 

Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt kritisiert das Vorgehen von Ausländerbehörde und Polizei bei Abschiebung einer sechsköpfigen Familie scharf

Familie F., seit 21 Jahren in Deutschland wohnhaft, wurde in der Nacht zum Montag, den 23.11.2020, aus Bernburg in den Kosovo abgeschoben. Der volljährige Sohn bleibt allein zurück.

Morgens um halb zwei standen völlig überraschend ca. 15 Polizeibeamt*innen, Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde Bernburg und Ärzt*innen vor der Tür, Polizeifahrzeuge und ein Reisebus blockierten die Straße. Mit lauten Schreien und Forderungen zwangen die Beamt*innen die Familienmitglieder aus den Betten, legten den älteren Söhnen Handschellen an und nahmen die Mobiltelefone ab – ohne Erklärung, ob diese wieder ausgehändigt würden.

»Wir wurden die ganze Zeit angeschrien und gehetzt. Die Handschellen haben sie mir erst abgenommen, als die anderen aus der Wohnung waren und ich sie gefragt habe, was sie mir eigentlich vorwerfen.« berichtet der älteste Sohn der Familie F. »Meine Mutter hat verzweifelt erklärt, dass wir nicht wissen, wo wir hin sollen, weil das ein völlig fremdes Land für uns ist. Aber es war den Polizist*innen einfach egal! Stattdessen haben sie sich lustig über uns gemacht, ausgelacht und unsere Katzen getreten.«

Im Bus wurden die Handys wieder ausgehändigt, am Abflughafen Baden-Baden jedoch erneut abgenommen. »Dieser Vorwurf der Familie ist besonders schwerwiegend. Die Abnahme der Handys in diesem wichtigen Zeitfenster verunmöglicht die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln und den Kontakt mit zurückgebliebenen Familienmitgliedern. Das wäre ein schwerer Fehler der Polizei vor Ort! Wir lassen das juristisch prüfen.« so Helen Deffner, Sprecherin des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt.

1999 war Frau F. (41 Jahre) mit ihrem neugeborenen Sohn 1999 vor dem Kosovo-Krieg nach Deutschland geflohen. Mit Ausnahme weniger Jahre lebte sie mit ihrem später nachgekommenen Ehemann und den vier hier geborenen Kindern im Duldungsstatus. Auch langjährige und kostenintensive Bemühungen, Pässe für alle Familienmitglieder zu besorgen, waren erfolglos geblieben. Lediglich für eine kurze Zeitspanne wurde von der Ausländerbehörde in Bernburg Aufenthaltserlaubnisse erteilt, jedoch nach nur wenigen Monaten ohne ersichtlichen Grund wieder versagt.

Nur der älteste Sohn wurde von den Behörden in Bernburg zurückgelassen, da er keine identitätsklärenden Papiere vorweisen kann – selbst eine Reise in den Kosovo, um mit anwaltlicher Unterstützung eine Registrierung und Passausstellung zu beantragen, führte nicht zur Passbeschaffung. »Stattdessen haben mir die Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde während der Abschiebung gesagt, dass sie mich wegen fehlender Papiere nicht in den Kosovo abschieben können und deshalb jetzt versuchen, mich in Serbien registrieren zu lassen. Ich weiß nicht, was das soll, schließlich habe ich gar nichts mit Serbien zu tun!«

Der Fall zeigt ein weiteres Mal, wie massives Bemühen der deutschen Behörden, die Abschiebequoten zu erhöhen, Menschen in Mitleidenschaft ziehen. »Gerade Kindern und Jugendlichen, die ihr Leben lang in Deutschland leben, Wurzeln schlagen, Freund*innenkreise aufbauen, zur Schule gehen und nur deutsch sprechen, ihre Lebensgrundlage zu entreißen, ist skandalös.« so Helen Deffner vom Flüchtlingsrat.

Stattdessen sollten Bleiberecht, Arbeitserlaubnis und eine nachhaltige Lebensgrundlage für Menschen ermöglicht werden, die sich schon jahrelang in Deutschland aufhalten. Der Flüchtlingsrat fordert daher die Genehmigung der Wiedereinreise der Familie nach Deutschland.

Die sechs Familienmitglieder sind im Kosovo nun bei entfernten Bekannten untergekommen, obwohl ihnen der Einzug in eine Asylunterkunft nahegelegt wurde. Für die gesamte Familie liegt nun eine Einreisesperre für Deutschland vor. Auch F. soll nun in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber*innen in Sachsen-Anhalt untergebracht werden.

Pressekontakt:
Helen Deffner | Projektleitung »Fachstelle Flucht und Asyl« | mobil: 015738303546



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