[Stellungnahme] Chancen-Aufenthaltsrecht: Bilanzierung des CAST-Projektteams


Chancen-Aufenthaltsrecht: Bilanzierung des CAST-Projektteams


Der folgende Text analysiert des Chancen-Aufenthaltsrechts (§ 104c AufenthG) in dessen Umsetzung und Wirkung auf die von ihm betroffenen Menschen. Dabei werden rechtliche, praktische und integrationspolitische Implikationen aus Sicht der Projektmitarbeitenden des CAST-Projekts des Flüchtlingsrats Sachsen-Anhalt beschrieben und diskutiert. In einem zweiten Text illustrieren wir diese Implikationen praktisch anhand konkreter Fallbeispiele aus unserer Beratungsarbeit.


Das Chancen-Aufenthaltsrecht: Eine reale oder fiktive Chance? Nach knapp zwei Jahren Chancen-Aufenthaltsrecht zieht der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt Bilanz.


Seit dem 31.12.2022 können Geflüchtete, die vor dem 31.10.2017 in Deutschland eingereist sind und seitdem ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einem Aufenthaltstitel hier leben, den sogenannten Chancen-Aufenthaltstitel beantragen. Dieser gewährt einen 18-monatigen, vorübergehenden Aufenthalt, in dem die Betroffenen bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen, um in ein langfristiges Bleiberecht zu wechseln und nicht in die Duldung zurückzufallen. Innerhalb dieses maximal 18-monatigen Zeitraums kann dann im zweiten Schritt ein Aufenthalt aufgrund nachhaltiger Integration nach § 25a oder § 25b AufenthG beantragt werden, sofern die dafür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Der Chancen-Aufenthaltstitel ermöglicht den Zugang zu Bildungs- und Integrationsangeboten, Deutsch- und Integrationskursen, die Aufhebung von Arbeitsverboten sowie die Teilnahme an Fördermaßnahmen zur beruflichen Integration.

Wichtig bleibt zu erwähnen, dass ein Identitätsnachweis für die Erteilung des Chancen-Aufenthalts zunächst nicht erforderlich ist – erst für den Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht muss die Identität geklärt werden. Der Antrag kann noch bis zum 31.12.2025 gestellt werden. Über ein Nachfolgegesetz wird aktuell nicht öffentlich debattiert. Laut dem Bundesrat verfolgt das Gesetzesvorhaben hierbei das Ziel, 'die hohe Zahl der Geduldeten deutlich [zu] reduzier[en]' und zugleich 'positive Anreize für die Integration in den Arbeitsmarkt und die für eine geordnete Migration wesentliche Identitätsklärung' zu setzen. (Bundesrat, 2022, S. 9)

Klar ist schon jetzt: Das Chancen-Aufenthaltsrecht bietet vielen Menschen, insbesondere Langzeitgeduldeten, eine einmalige Chance, aus der ökonomischen Abhängigkeit und sozialen Isolation des Duldungsstatus auszubrechen und einen regulären Aufenthalt zu erlangen. Während der 18-monatigen Gültigkeit bietet es zudem rechtliche Sicherheit vor Abschiebung, was den Betroffenen erstmals Stabilität und Planungssicherheit für ihre Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft gibt. Gleichzeitig birgt das Gesetz in der Umsetzung Hürden, an denen nicht wenige scheitern – wie sich auch anhand unserer konkreten Fallbeispiele zeigt.

Denn in den 18 Monaten müssen die Betroffenen, denen zuvor oft alle Integrationsmöglichkeiten verwehrt waren, Deutsch lernen, einen Integrationskurs besuchen, den Test „Leben in Deutschland“ bestehen, eine Arbeit finden, die ihren Lebensunterhalt langfristig sichert, und ihre Identität durch Passbeschaffung zweifelsfrei klären. Für Menschen, die bereits vor dem Chancen-Aufenthalt einige dieser Voraussetzungen erfüllt haben, ist dies realistisch. Für andere, die noch keine der Anforderungen erfüllen, kann dies jedoch zu einem überaus komplizierten Unterfangen werden. Da der Chancen-Aufenthaltstitel nicht verlängert werden kann, droht bei Nichterfüllung der Kriterien der erneute Rückfall in die Duldung.

Im folgenden Text zieht der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt Bilanz aus über einem Jahr Begleitung von Geflüchteten im Rahmen des Projekts "CAST - Chancen-Aufenthalt in Sachsen-Anhalt". Die dabei offengelegten Hürden und Problemfelder zeigen, dass weiterhin an Lösungen gearbeitet werden muss, um möglichst vielen Menschen aus der prekären Situation der Langzeitduldung zu helfen und echte Integrationsperspektiven zu schaffen.


Zum Hintergrund des Chancen-Aufenthaltsrechts.


Das von der Bundesregierung verabschiedete Chancen-Aufenthaltsrecht, das am 01.01.2023 in Kraft trat, wurde eingeführt, um die jahrelangen sogenannten Kettenduldungen vieler Menschen zu durchbrechen.1 Die Bundesregierung ging bei der Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts davon aus, dass zum Stichtag des Inkrafttretens des Gesetzes am 31. Dezember 2022 insgesamt 248.182 geduldete Personen in Deutschland lebten, alleine davon schon 137.373 seit mehr als fünf Jahren in einer Langzeit- bzw. Kettenduldung - weit über die Hälfte also.2 In der Gesetzesbegründung rechnete die Bundesregierung damit, dass circa 98.000 geduldete Personen das Chancen-Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen würden.3 In den ersten eineinhalb Jahren seit Einführung des ChAufR haben demnach 55 % der langjährig geduldeten Personen, an die sich das ChAufR richtet, den „Aufenthalt auf Probe“ erhalten. Dies entspricht etwa einem Viertel aller in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Personen.4 Hierdurch sank die Zahl der als ausreisepflichtig geltenden Menschen insgesamt um über 20 Prozent.5

Bundesweit ergeben die bis zum Februar 2025 erhobenen Zahlen laut einer Statistik des Ausländerzentralregister (AZR) das folgende Bild: 81.735 Personen haben den Antrag bislang gestellt, davon waren zu besagtem Zeitraum 43.100 Personen noch im 104c AufenthG, während 21.400 Personen eine Fiktionsbescheinigung zur Überbrückung erhalten haben.6 3,500 Personen sind zurück in die Duldung gefallen und 12.200 Personen haben erfolgreich den Übergang in die Integrationsaufenthalte geschafft. Bei 300 Personen ist er Aufenthalt nach 104c AufenthG erloschen, wie das Bundesinnenministerium auf eine Anfrage des Mediendienstes Integration hin mitteilte.

Somit hat die Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts bereits nach einem Jahr nachweislich dazu geführt, dass die Zahl der Menschen mit Duldung in Deutschland – zumindest vorübergehend – deutlich zurückgegangen ist. Was sich anhand dieser Zahlen außerdem bereits jetzt ablesen und erahnen lässt: eine gut umgesetzte Bleiberechtsregelung senkt die Zahl von geduldeten Personen deutlich schneller und langfristiger als härtere Abschiebegesetze. Zumal die ständige Möglichkeit, abgeschoben zu werden und die mit der Duldung einhergehenden Arbeits- und Ausbildungsverbote bei den Betroffenen selbst großes persönliches Leid verursachen und individuelle Integrationsbemühungen erschweren oder gar verhindern.7 Zudem erhöht die ständige Unsicherheit, die mit der drohenden Abschiebung einhergeht, das Risiko psychischer Belastungen wie Angststörungen oder Depressionen. Dies mindert nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen erheblich, sondern hemmt auch ihre Fähigkeit, an längerfristigen Arbeits- oder Integrationsmaßnahmen teilzunehmen. Auch haben Personen mit einer Duldung selbst bei vorliegender Arbeitserlaubnis deutlich geringere Chancen, eine langfristige Beschäftigung zu finden, da Arbeitgeber zögern, Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus einzustellen. Oft bleiben sie daher gezwungenermaßen in ökonomischer Abhängigkeit von Sozialleistungen.

Klar erkennbar wird: Gesetze wie der Chancen-Aufenthaltstitel, die auf die Förderung der Arbeitsmarktintegration abzielen, geben Geflüchteten durch einen klaren Aufenthaltsstatus oft erstmals die Chance, eine langfristige Beschäftigung zu finden und ebnen ihnen so den Weg zu einer selbstbestimmten gesellschaftlichen Existenz.


Zur potentiellen Wirkung des Chancen-Aufenthalts und möglicher Folgegesetze.


Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2017 (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB) zeigt, dass Investitionen in Integrationsmaßnahmen langfristig zu höheren Steuereinnahmen und geringeren Sozialausgaben führen. Die erfolgreiche Eingliederung von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt entlastet somit nicht nur die öffentlichen Kassen, sondern trägt auch positiv zur Volkswirtschaft bei. 8 Eine im Dezember 2024 vom IAB herausgegebene Studie bekräftigt die Tatsache, dass die kommunalen Ausgaben für Geflüchtete zwischen 2015 und 2017 stark von sogenannten konsumtiven Ausgaben (Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, Sozialleistungen) dominiert wurden. Investive Ausgaben in Bildung, Spracherwerb oder soziale und berufliche Integration blieben hingegen gering, obwohl diese langfristig das Wirtschaftswachstum stärken. Ein gesicherter Aufenthaltsstatus ist hierbei laut der Studie eine zentrale Voraussetzung, um Geflüchtete als aktive Akteure mit Zukunftsperspektive in Integrationsprozesse einzubinden.9

Wie diese Studien zeigen, entlastet die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt also nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern entfaltet eine positive volkswirtschaftliche Wirkung. Effektive Integrationsmaßnahmen, wie die breitere Anwendung des Chancen-Aufenthaltsrechts, ermöglichen es der Aufnahmegesellschaft damit, mehr Menschen in den Arbeitsmarkt einzubinden, was langfristig zu höheren Steuereinnahmen und geringeren Sozialausgaben führt, da Geflüchtete durch ihre Erwerbstätigkeit wirtschaftlich unabhängiger werden und weniger auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Gleichzeitig schafft die gesicherte Bleibeperspektive, die mit solchen Maßnahmen einhergeht, ein lebenswerteres Umfeld für die Betroffenen. Denn die Möglichkeit, sich beruflich zu entfalten und selbstständig für den eigenen Unterhalt zu sorgen, reduziert psychische Belastungen wie Angststörungen oder Depressionen erheblich. Dies verbessert nicht nur die Lebensqualität der Geflüchteten selbst, sondern wirkt sich auch positiv auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus.

Indem sowohl volkswirtschaftliche als auch humanitäre Aspekte berücksichtigt werden, können Integrationsmaßnahmen also eine Situation schaffen, die sowohl die Wirtschaft stärkt und gleichzeitig das Wohlbefinden und die Teilhabe eines nicht unerheblichen Teils der hier lebenden Menschen fördert.

Die bundesweiten Daten des Bundeamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu den ersten Personen, die bis Mitte 2024 aus dem auf 18 Monate befristeten ChAufR in einen anderen Status gewechselt sind, lassen derzeit nur einen groben Ausblick zu: Bislang erhielten 15 % der Personen nach ihrem Chancen-Aufenthalt einen anderen Aufenthaltstitel, während etwa 2,5 % erneut ausreisepflichtig wurden.10

Das Chancen-Aufenthaltsrecht hat somit zu einer spürbaren kurzfristigen Verringerung der Zahl ausreisepflichtiger Personen geführt, auch wenn sich, zum aktuellen Zeitpunkt noch über 80% der Begünstigten innerhalb der 18-monatigen Frist befinden. Erste Auswertungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge deuten darauf hin, dass rund 15% der Antragsteller bereits in dauerhafte Aufenthaltstitel (insbesondere nach §25b) übergehen konnten, während 2,5% aus dem Chancen-Aufenthalt wieder zurück in die Duldung fielen. 11

Für eine fundierte Bewertung, ob das Gesetz seine Ziele nachhaltiger Integration tatsächlich erreicht, wird nach Ablauf der dreijährigen Gesetzeslaufzeit von zentraler Bedeutung sein, wie hoch der Anteil der tatsächliche Anteil derjenigen ist, die nach Abschluss der 18 Monate in dauerhaft stabile Aufenthaltsverhältnisse wechseln konnten.


Der Chancen-Aufenthalt in Sachsen-Anhalt:


In Sachsen-Anhalt gab es zum 31. Dezember 2024 immer noch ca. 4700 als ausreisepflichtig bzw. geduldet geltende Personen.12 Nach aktuellem Stand wurden, wie aus einer Beschlussrealisierung der Landesregierung vom 04. Februar 2025 hervorgeht, in Sachsen-Anhalt 1.634 Chancen-Aufenthaltsrechte erteilt, von denen bis Ende letzten Jahres 21 Personen einen erfolgreichen Übergang nach § 25a AufenthG (Aufenthaltsgewährung für gut integrierte Jugendliche und junge Erwachsene) und 145 Personen nach § 25b AufenthG (Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration) vollzogen haben. Insgesamt sind dies somit 166 Personen (≈ 10,16 % der 1.634 Chancen-Aufenthaltsberechtigten) – eine auf den ersten Blick ernüchternd niedrige Zahl. Hinzu kommen bis Ende letzten Jahres 34 gezählte Rückfälle in den Duldungsstatus (≈ 2,08 % der 1.634). Als Gründe hierfür wurden von Behördenseite die ungeklärte Identität, fehlende Sprachkenntnisse oder fehlende Schulbesuchsnachweise angeführt.

Anzumerken ist dabei außerdem, dass Rückfälle in die Duldung erst seit Juli 2024, dem erstmaligen Ablaufdatum der 18-Monats-Frist, möglich sind – sodass sich die tatsächliche Zahl der Rückfälle 2025 noch deutlich erhöhen wird, da viele der 1.634 Personen erst ab 2025 die 18-Monats-Frist erreichen.13

Dass bis zum Ende letzten Jahres (Stand: 31.12.2024) immerhin 166 Personen über den Zwischenschritt des Chancen-Aufenthaltsrechts in ein dauerhaftes Bleiberecht wechseln konnten, muss aus unserer Sicht dennoch als Teilerfolg gewertet werden. Denn hier geht es um 166 Einzelschicksale von Menschen, die sich nun, nach Jahren der gesellschaftlichen Marginalisierung und Isolation, nun eine selbstständige Existenz aufbauen können. Auch das Sozialamt sowie die Behörden in Sachsen-Anhalt und bundesweit werden durch jede Person, der eine selbstständige Existenz ermöglicht werden kann, entlastet.

Insgesamt hat sich das Chancen-Aufenthaltsrecht also als ein ambivalentes Instrument erwiesen: Zwar bietet es formal eine Brücke aus der Duldung und ermöglichte in Sachsen-Anhalt bis Ende 2024 immerhin 166 Personen den Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht. Gleichzeitig offenbart die Praxis systematische Defizite, die den Erfolg des Gesetzes für viele Geflüchtete untergraben und zu einem (vermeidbaren) Scheitern trotz hohem Eigenengagement führen. Dass bisher (Ende 2024) nur 10 % der Berechtigten den Übergang ins Bleiberecht geschafft haben, verdeutlicht, dass das Gesetz für viele eine Zwischenlösung ohne Perspektive bleibt – und unterstreicht die Notwendigkeit für Folgegesetze und Anschlussregelungen.

Und nochmal sei an dieser Stelle zu erwähnen: Ende diesen Jahres sollte sich natürlich auch die Zahl derjenigen, die vom Chancen-Aufenthalt langfristig profitieren konnten, noch einmal deutlich erhöht haben.


Der Chancen-Aufenthalt: Echte Chancen, Hürden und Herausforderungen:


Fest steht anhand der oben darlegten Zahlen: das Chancen-Aufenthaltsrecht bereits jetzt nicht wenigen Menschen zu einem deutlich unabhängigeren und ökonomisch selbstbestimmteren Leben und somit zu einer echten Zukunftsperspektive hier in Deutschland verholfen. Gleichzeitig hat die Auseinandersetzung mit den gesetzlichen Anforderungen für einen Übergang vom Chancen-Aufenthaltstitel zu regulären Bleiberechten und den in diesem Zusammenhang von den Betroffenen zu erfüllenden Kriterien verschiedene Herausforderungen sichtbar gemacht und in vielen Fällen erhebliche Schwierigkeiten offenbart. Und dass bis Ende 2024 lediglich 10 % der Antragsberechtigten in Sachsen-Anhalt den Übergang ins Bleiberecht geschafft haben, kann hierbei sicherlich niemanden wirklich zufriedenstellen.

Viele Personen scheitern am Übergang ins Bleiberecht, weil bürokratische Hürden – insbesondere bei Personen aus Herkunftsstaaten ohne ausreichende Kooperation –, fehlende Papiere und teils fehlende Möglichkeiten, diese rechtzeitig zu beschaffen, oder mangelnde Sprachkurskapazitäten (besonders im ländlichen Raum) den Prozess erschweren. Insbesondere die Identitätsklärung – einerseits aufgrund der bürokratischen und logistischen Komplexität des Prozesses, andererseits wegen der Strenge, mit der diese von den Behörden eingefordert wird – erwies sich in vielen Fällen als problematisch, sodass die 18-Monats-Frist des Chancen-Aufenthalts hier häufig als zu kurz erschien. Auch die Mehrfachbelastung durch Sprach- und Arbeitsintegration sowie die Identitätsklärung und den zu absolvierenden Integrationstest, insbesondere im strukturschwächeren ländlichen Raum, wo die Kurs- oder Arbeitsplätze noch knapper und die Wege noch länger sind, ist dabei nicht zu unterschätzen.

So bietet das Chancen-Aufenthaltsrecht zwar eine echte Chance für diejenigen Langzeitgeduldeten, die innerhalb der engen Stichtagsregelung liegen14, aber für viele von ihnen eben auch nur eine sehr begrenzte Möglichkeit. Dies gilt insbesondere für vulnerable Gruppen, Menschen, die über Jahre mit Arbeits- und Bildungsverboten belegt waren und deswegen über Jahre keinen Weg aus der gesellschaftlichen Isolation gefunden haben, oder aber Personen mit Problemen bei der Passbeschaffung und Menschen außerhalb urbaner Zentren, für die die Mehrfachbelastung auch aufgrund fehlender Infrastruktur und Bildungsangebote zu einem echten Problem werden kann.


Zwischenbilanz des CAST-Projektteams: Forderungen und Vorschläge:


Aus Sicht der CAST-Projektteams hat sich das Chancen-Aufenthaltsrecht (§104c AufenthG) bereits zum jetzigen Zeitpunkt als ein in vielen Fällen wirksames Pilot‑ und Modellprojekt erwiesen, um langjährig Geduldeten eine Bleibeperspektive zu eröffnen und strukturelle Hürden zu überwinden, die einer früheren Integration dieser Gruppe im Wege standen. Daher sehen wir es als einen gelungenen gesetzgeberischen Schritt in die richtige Richtung, der zeigt, wie pragmatische Lösungen für langjährig Geduldete in Zukunft aussehen können.

Denn was durch das Gesetz aus unserer Sicht in erster Linie möglich wird, ist - und dies in vielen Fällen erstmals - eine strukturierte Zusammenarbeit zwischen Behörden und Geflüchteten, die von Transparenz und aktiver Mitwirkung geprägt ist, statt von Passivität und gegenseitigem Misstrauen. Arbeits‑ und Sprachintegration können so in einem geschützten Rahmen stattfinden, und Identitätsklärungen können ohne akute Abschiebungsgefahr erfolgen.

Aus unserer Sicht könnte (und sollte) das Chancen-Aufenthaltsrecht somit ganz generell für einen neuen behördlichen Ansatz hinsichtlich der Langzeitduldung Geflüchteter stehen: statt Isolation und Vermeidung prägen nun eine zielgerichtete Zusammenarbeit und gegenseitige Verantwortung die Beziehung zwischen Geduldeten und Aufnahmegesellschaft. Denn während hier auf der einen Seite viele Menschen den Weg aus ihrer gesellschaftlichen Isolation in eine selbstbestimmte und angstfreiere Existenz finden, entlastet das Gesetz andererseits Sozialkassen und Verwaltungen und schafft so positive wirtschaftliche und soziale Anreize und Effekte durch die Eingliederung neuer Fachkräfte in den Arbeitsmarkt und die positive Ausweitung gesellschaftlicher Teilhabe auf einen nicht unwesentlichen Teil der hier lebenden Menschen.

Jedoch offenbaren am Gestzeskonstrukt des §104c AufenthG auch deutliche Probleme. Klare Kritik äußern wir dabei insbesondere an der starren Stichtagsregelung des Chancen-Aufenthalts, die eine Einreise bis zum 31.10.2017 für die Möglichkeit zur Beantragung des Chancen-Aufenthalts verlangt und damit alle später Eingereisten systematisch ausschließt - selbst wenn sie inzwischen fünf Jahre oder länger in Deutschland leben. So reproduziert diese Regelung ein grundlegendes Spannungsverhältnis, in dem der politische Wille zur Integration mit einer starren rechtlichen Restriktion kollidiert und vielen Menschen dadurch eine Existenzverbesserung aus rein bürokratisch-formalen Gesichtspunkten verunmöglicht.

„Das Chancenaufenthaltsrecht zeigt, wie der gesetzgeberische Spielraum positiv genutzt werden kann, um Menschen nach jahrelanger aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit in ein Bleiberecht zu verhelfen. Allerdings nützt das Recht durch die Stichtagsregelung der zwingenden Einreise bis zum 31.10.2017 nur einem begrenzten Personenkreis. Viele Menschen sind daher weiterhin über Jahre von so genannten Kettenduldungen betroffen. Dem gesetzgeberischen Willen, diese Kettenduldungen abzuschaffen, wird daher nicht umfassend Rechnung getragen. Angesichts der positiven Erfahrungen mit dem Chancenaufenthaltsrecht sollte das Recht stichtagsunabhängig gestaltet werden. Dies würde zudem eine wesentliche Entlastung für die Exekutive bedeuten, den Zugang in den Arbeitsmarkt fördern und damit die Belastung der Sozialsysteme reduzieren." (Thomas Stöckl, Fachanwalt für Migrationsrecht)

Eine dynamische, stichtagsunabhängige Regelung, die sich an objektiven Kriterien wie Aufenthaltsdauer, Integrationsfortschritt und Kooperationsbereitschaft orientiert, wäre hier also sinnvoll. Um eine vertane Chance mit drastischen Konsequenzen für die Betroffenen und einer weiterhin hohen finanziellen Belastung für Länder und Kommunen in Zukunft zu verhindern, plädieren wir daher für eine Flexibilisierung der 18-Monatsfrist in einem etwaigen Folgegesetz und die Möglichkeit ihrer Anpassung an persönliche Notlagen und existentiellen Engpässe der Betroffenen.

Zudem braucht es regionale Anpassungen für strukturschwache Gebiete, wo infrastrukturelle Defizite die Integration erschweren. Die besonderen Herausforderungen strukturschwacher Regionen – wie fehlende Kursangebote, weite Anfahrtswege und mangelnde Beratungsstrukturen – müssen systematisch berücksichtigt werden, um die Erfolgsquote bei den Bleiberechtsübergängen zu erhöhen. Denn dass bis Ende letzten Jahres erst knapp 10 % der 1.634 Chancen‑Aufenthaltsberechtigten in Sachsen‑Anhalt bis Ende 2024 den Übergang ins dauerhafte Bleiberecht geschafft haben, hat letzten Endes auch mit den organisatorischen und infrastrukturellen Hürden zu tun, denen sich den Geflüchteten bei der integrativen Erfüllung der ChAR-Kriterien in den Flächenlandkreisen gegenüber sehen. Denn oft mangelt es hier schlichtweg an Anbindung und Angeboten, um gut und sicher durch die 18 Monate kommen zu können.

Die Tatsache, dass über ein Nachfolgemodell zum Chancen-Aufenthalt derzeit nicht öffentlich gesprochen wird, sehen wir ebenfalls als problematisch an. Denn so bleibt das Gesetz ein befristetes Provisorium ohne klare Folgeperspektive für die weiterhin enorm große Gruppe der Langzeitgeduldeten Menschen in Deutschland. Das Chancen-Aufenthaltsrecht als „Auslaufmodell“ gefährdet somit die nachhaltige Integrationsperspektive dieser Menschen und ist somit auch für den deutschen Arbeitsmarkt und die deutsche Gesellschaft im Allgemeinen eine vertane Möglichkeit.

Aus unserer eigenen Arbeits- und Beratungspraxis ergibt sich außerdem das Bild, dass vulnerable Personengruppen, z. B. Personen mit geringer schulischer Bildung im Herkunftsland, nicht alphabetisierte Personen und Personen mit Krankheiten oder Behinderungen weniger vom Chancenaufenthalt profitieren können. Für eine vertiefte Auswertung konkreter Fallbeispiele aus unserer Beratungsarbeit – insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen für vulnerable Gruppen sowie die Problematik der Identitätsklärung – und die daraus abgeleiteten Argumente für eine inklusivere Ausgestaltung des Gesetzes, lesen Sie gerne hier weiter: (Verlinkung zum Fallbeispieltext).

Insgesamt bleibt das Chancen-Aufenthaltsrecht also ein wichtiges, aber unvollendetes Projekt: Den Betroffenen bietet der Chancen-Aufenthalt die existenzielle Chance, nach Jahren der Unsicherheit erstmals einen legalen Aufenthaltsstatus mit uneingeschränktem Arbeitsmarktzugang zu erhalten und somit – häufig zum ersten Mal - eine echte Integrationsperspektive. Auch dadurch, dass es einen neuen „kooperativen“ Ansatz im behördlichen Umgang mit Langzeitgeduldeten geschaffen hat, könnte es seiner Wirkung nach wegweisend für eine neuartige integrationspolitische Ausgestaltung des deutschen Aufenthaltsrechts sein. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz belegen dabei, dass solche pragmatischen legislativen Lösungen sowohl den Betroffenen als auch der Aufnahmegesellschaft nutzen, indem sie Rechtssicherheit schaffen und die Verwaltungen sowie finanziell in nicht unerheblicher Art und Weise entlasten.


1 Kettenduldung bzw. Langzeitduldung bezeichnet die Situation von Menschen, die sich jahrelang in Deutschland aufhalten, ohne einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erhalten. Statt eines festen Aufenthaltstitels wird ihnen nur eine Duldung gewährt, die dann in regelmäßigen Abständen immer wieder neu verlängert wird, bis eine Abschiebung vollzogen werden kann. Dies bedeutet also, dass die Ausreisepflicht zwar weiterhin besteht und eine Abschiebung der Person von Behördenseite zwar forciert bzw. vorbereitet, jedoch vorübergehend ausgesetzt wird. Das führt dazu, dass betroffene Personen über viele Jahre hinweg in einem rechtlich unsicheren Status verharren, was ihre Integration und Lebensplanung erheblich erschwert und häufig ganz verunmöglicht.


2 Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) (o. D.). Chancen-Aufenthaltsrecht. Online verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/chancen-aufenthaltsrecht.html [Zugriff: 05.03.2025].


3 Pro Asyl (2023). Das Chancen-Aufenthaltsrecht – eine gemischte Zwischenbilanz. Online verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/das-chancen-aufenthaltsrecht-eine-gemischte-zwischenbilanz/ [Zugriff: 05.03.2025]


5 Pro Asyl (2023). Das Chancen-Aufenthaltsrecht – eine gemischte Zwischenbilanz. Online verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/das-chancen-aufenthaltsrecht-eine-gemischte-zwischenbilanz/ [Zugriff: 05.03.2025].


6 Laut den Anwendungshinweisen des Innenministeriums sind die Ausländerbehörden angehalten, zur zeitlichen Überbrückung auch über die 18 Monatsfrist hinaus mit den hier erwähnten Fiktionsbescheinigungen zu arbeiten. Dies kann sinnvoll erscheinen, wenn beispielsweise die Passausstellung durch die jeweilige Botschaft oder ein Termin zur Absolvierung des Integrationstests außerhalb der 18 Monate liegt, ohne dass dies die ehrlichen Bemühungen der betroffenen Person für die Behörde in Zweifel stellt.


7 Pro Asyl (2023). Das Chancen-Aufenthaltsrecht – eine gemischte Zwischenbilanz. Online verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/das-chancen-aufenthaltsrecht-eine-gemischte-zwischenbilanz/ [Zugriff: 05.03.2025].


8 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (2017). IAB-Kurzbericht: Aktuelle Analysen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 02/2017. Nürnberg: IAB.


9 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (2024). Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten: Verbesserte institutionelle Rahmenbedingungen fördern die Erwerbstätigkeit. IAB-Kurzbericht, 10/2024. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.


10 Peitz, L. & Carwehl, A.-K. (2025). Zwischen Duldung und Bleiberecht: Wie und für wen wirkt das Chancen-Aufenthaltsrecht? (Kurzanalyse 03|2025). Nürnberg. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. https://doi.org/10.48570/bamf.fz.ka.03/2025.d.2025.chaufr.1.0


11 Ebd.


12 Statista (2023). Anzahl der ausreisepflichtigen Ausländer in Deutschland nach Bundesländern (Stand: Ende 2022). Online verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/671465/umfrage/ausreisepflichtige-auslaender-in-deutschland-nach-bundeslaendern/ [Zugriff: 05.03.2025].


13 Gleichzeitig ist natürlich auch mit einer entsprechend höheren Zahl an erfolgreichen Übergängen zu rechnen, insbesondere dadurch, dass die Ausländerbehörden durch die im Verlauf der Gesetzesumsetzung immer wieder angepassten Anwendungshinweise des Innenministeriums angehalten sind, Entscheidungen im Zweifel eher im Sinne der Betroffenen auszulegen.


14 Die Stichtagsregelung des Chancen-Aufenthalts (§104c AufenthG) begrenzt den Kreis der Berechtigten auf Personen, die spätestens bis zum 31.10.2017 nach Deutschland eingereist sind und seitdem ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit Aufenthaltstitel hier leben. Diese starre zeitliche Grenze schließt alle später Eingereisten aus – selbst wenn sie inzwischen fünf Jahre oder länger im Land sind. Die Regelung soll zwar Rechtssicherheit schaffen, führt, aus unserer Sicht, aber zu einer willkürlichen Differenzierung zwischen vergleichbar betroffenen Geduldeten und verhindert, dass das Gesetz sein Ziel der flächendeckenden Reduzierung von Kettenduldungen vollständig erreicht.



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