[Stellungnahme] Fallbeispiele aus knapp zwei Jahren Beratungsarbeit zum Chancen-Aufenthaltsrecht

Illustration: Lea Reichert (@knete_lea)

Der folgende Text analysiert die Umsetzung und Wirkung des Chancen-Aufenthaltsrechts (§ 104c AufenthG) aus der Perspektive des CAST-Projekts des Flüchtlingsrats Sachsen-Anhalt. Anhand konkreter Fallbeispiele werden die rechtlichen, praktischen und integrationspolitischen Herausforderungen beleuchtet, mit denen Geflüchtete bei der Nutzung des Gesetzes konfrontiert sind. Durch den Rückgriff auf unsere Fallarbeit möchten wir einerseits verdeutlichen, wo und wie sich die komplexen Probleme des Gesetzes in der Praxis zeigen. Gleichzeitig wollen wir auch positive Beispiele aufzeigen, in denen es Menschen gelungen ist, durch die Erfüllung aller gesetzlichen Kriterien einen langfristigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Die vier Fallbeispiele aus unserer Beratungs- und Begleitungspraxis zeigen einerseits, wie strukturelle Defizite und bürokratische Hürden die Integration erschweren. Andererseits beleuchten sie auch Positivbeispiele, die verdeutlichen, unter welchen Bedingungen Menschen bestmöglich von dem Gesetz profitieren konnten. Denn fest steht: Das Chancen-Aufenthaltsrecht hat bereits jetzt vielen Menschen zu einem deutlich unabhängigeren und ökonomisch selbstbestimmteren Leben verholfen (hier zu unserer vollumfänglichen Bilanzierung des Gesetzes) – und damit zu einer echten Zukunftsperspektive.

Im Anschluss skizzieren wir zusammenfassend kurze Reformvorschläge für, die wir auf Basis unserer rund zweijährigen Beratungserfahrung (Oktober 2023 - Juli 2025) für sinnvoll halten, um solche oder ähnliche Gesetze in Zukunft gerechter und praxistauglicher zu gestalten.


Das CAST-Projektteam des Flüchtlingsrats Sachsen-Anhalt zieht Bilanz


Fallbeispiel I: Junge Frau aus Tschetschenien (Russische Föderation)

Bei einer jungen Frau aus Tschetschenien gestaltete sich die Inanspruchnahme des Chancen-Aufenthaltsrechts besonders unkompliziert: Da ihr Pass bereits vorlag, wurde kein Arbeitsverbot verhängt, und sie konnte bereits vor Erhalt des Chancen-Aufenthalts arbeiten sowie Sprachkurse besuchen. Zudem sind Abschiebungen nach Russland derzeit ausgesetzt, sodass keine unmittelbare Bedrohung für ihren Aufenthalt bestand. Da die Identitätsklärung durch den vorliegenden Pass abgeschlossen war, entfiel eine der größten Hürden des Gesetzes.1 Durch die von der Ausländerbehörde erteilte Beschäftigungs- und Integrationserlaubnis hatte sie zudem eine Arbeit gefunden und die geforderten Sprachanforderungen erfüllt.2 Nun war nur noch zu prüfen, ob ihre Arbeit den Anforderungen der Ausländerbehörde (langfristige Perspektive, ausreichendes Gehalt) genügte.3 Da dies der Fall war und der Arbeitsvertrag weder innerhalb der Frist noch kurz danach endete, stand dem Übergang in ein Bleiberecht nach § 25b AufenthG nichts mehr im Wege.

Dieser Fall zeigt, dass das Chancen-Aufenthaltsrecht dann besonders gut funktioniert, wenn die strukturellen Voraussetzungen (Pass, Arbeitserlaubnis, Kursangebote) bereits gegeben sind. In solchen Fällen ist die 18-Monats-Frist in der Regel ausreichend, um alle Kriterien für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen. Die Arbeitserlaubnis fungiert hier als zentraler Integrationstreiber. Da das Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG auf Personen beschränkt ist, die am Stichtag 31.10.2022 bereits mindestens fünf Jahre in Deutschland geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis lebten, ist der entscheidende Unterschied, ob die Person in diesen Jahren die Möglichkeit hatte, ihre Integration (z. B. Schulbesuch, Sprachkurse, Arbeitsmarktteilhabe) trotz Duldungsstatus voranzutreiben – oder ob behördliche Verbote dies verhinderten. Weil dies hier nicht der Fall war, konnte die junge Frau frühzeitig alle notwendigen Bedingungen erfüllen, in einen langfristigen Aufenthaltstitel wechseln und so durch die Erteilung des § 25b AufenthG eine stabile Zukunftsperspektive in Deutschland aufbauen.

Fallbeispiel II: Junger Mann aus dem Iran

Der Fall eines jungen iranischen Mannes Anfang 20, der seit seinem siebten Lebensjahr in Deutschland lebt, zeigt ein positives, aber strukturell problematisches Ergebnis.4 Durch seinen langjährigen Aufenthalt und seine Integration (deutscher Schulabschluss, laufende Berufsausbildung) erfülle er bereits alle Voraussetzungen des Chancen-Aufenthaltsrechts nach §104c AufenthG. Einzig die Beschaffung seines Reisepasses stand für die Erteilung des § 25a AufenthG noch aus. Glücklicherweise konnte dieser fristgerecht über die iranische Botschaft in Berlin beantragt werden, da alle benötigten Unterlagen – wie die Geburtsurkunde – im Original vorlagen.5 Hier musste also – trotz offensichtlich gegebener Integration – zunächst der befristete Status des Chancen-Aufenthalts durchlaufen werden, bevor die Person in ein Bleiberecht nach §25a AufenthG wechseln konnte. Kurz vor Ablauf der 18-Monats-Frist6 erhielt der junge Mann schließlich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG (Aufenthaltsgewährung für gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige).

Ähnlich wie im zuvor geschilderten Fall, wo die Berufstätigkeit der Person einen problemfreien Übergang erleichtert hat, erwies sich hier der gelungene Übergang von der Schule in die Berufsausbildung als entscheidender Integrationsvorteil, der trotz jahrelanger Duldung die Voraussetzungen für ein Bleiberecht schuf. Die rechtzeitige Beantragung des Reisepasses war dabei ausschlaggebend, da die Dauer solcher Verfahren oft unvorhersehbar ist. Dennoch wirft dieser Fall die Frage auf, warum eine Person, die in Deutschland aufgewachsen ist, hier die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung begonnen hat, überhaupt das Chancen-Aufenthaltsrecht als Zwischenschritt benötigt. Nach § 25a AufenthG hätte er eigentlich direkt ein Bleiberecht erhalten sollen, da er die Voraussetzungen (mindestens vier Jahre Aufenthalt, Schulbesuch oder Ausbildung) erfüllte. Das Chancen-Aufenthaltsrecht fungiert hier – wie oft – als „Reparaturinstrument“, das Defizite im regulären System ausgleicht, etwa bei nicht vollzogener Identitätsklärung oder formalen und behördlichen Verzögerungen.

Gleichzeitig verdeutlicht der Fall strukturelle Unstimmigkeiten im Aufenthaltsrecht. Denn ein Jugendlicher, der seit Jahren in Deutschland lebt, einen Schulabschluss erworben und eine Ausbildung begonnen hat, sollte unmittelbar ein Bleiberecht nach § 25a AufenthG erhalten können, anstatt auf das Chancen-Aufenthaltsrecht angewiesen zu sein. Dies zeigt die Notwendigkeit einer vereinfachten und direkt zugänglichen Bleiberegelung für langjährig integrierte Personen, um bürokratische Hürden zu reduzieren und integrationsfördernde Maßnahmen effizienter zu gestalten. Eine konsequente Reform des § 25a AufenthG wäre erforderlich, um langjährig integrierten Personen einen direkten und rechtssicheren Weg zum Aufenthalt zu ermöglichen – ohne Umwege über befristete Regelungen.

Fallbeispiel III: Verdeutlichung der Problematik Passbeschaffung - Fall 1: Armenischer Mann (47 Jahre):

Im Gegensatz zur nahezu reibungslosen Passbeschaffung des jungen Mannes aus dem Iran, war dieser Vorgang im Fall eines 47 Jahre alten armenischen Staatsbürgers so einfach nicht möglich. Da er das Land ursprünglich als junger und wehrpflichtiger Mann und somit aus Sicht der armenischen Behörden irregulär verlassen hatte, konnte er in der Vergangenheit nicht wieder nach Armenien einreisen. Die armenischen Behörden verlangen für die Ausstellung eines neuen Passes nun aber seine persönliche Einreise, die aufgrund individueller Schwierigkeiten und Risiken (z. B. fehlender Reisedokumente, unklare Situation bei Wiederausreise aufgrund der damaligen irregulären Ausreise und dem verweigerten Wehrdienst) nicht ohne weiteres möglich ist.

Die Passbeantragung ist also in vielen Fällen, wie auch in diesem Fall, nur persönlich vor Ort und nicht im jeweiligen Konsulat oder der Botschaft in Deutschland möglich. Eine Reise ins Heimatland ist jedoch nicht für alle Personen problemlos realisierbar, sei es wegen persönlichen, rechtlichen, bürokratischen oder finanziellen Gründen. In solchen Fällen kommt es darauf an, dass die zuständigen Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde zumindest nachvollziehen können, dass hier alle „menschenmöglichen“ Versuche unternommen worden sind, den Reisepass zu besorgen.7 Dies nachzuweisen kann aber durchaus problematisch sein und wird voraussichtlich damit verbunden sein, nicht direkt in einen Aufenthaltstitel wechseln zu können, sondern entweder direkt zurück in die Duldung zu fallen, oder aber zur Überbrückung zunächst ein sogenanntes Fiktionsbescheinigungspapier zu erhalten8, um einen erneuten Rückfall in die Duldung zu verhindern, bis die Ausländerbehörde über den Aufenthaltstitel entschieden hat (vgl § 81 AufenthG).

Der Mann in diesem konkreten Beispiel lebt seit weit über zehn Jahren mit seiner Familie in Deutschland (zwei seiner Kinder sind hier geboren), hat im Rahmen des Chancen-Aufenthaltstitels eine Arbeit finden können und zeigt auch sonst eine große Integrationsbereitschaft. Dennoch droht ihm nun, weil er seinen Pass nicht beschaffen kann, der Rückfall in die Duldung. Trotz Kooperation mit den deutschen Behörden scheitert die Identitätsklärung an dieser externen Hürde, was eine paradoxe Situation zur Folge hat: Obwohl er alle sonstigen Kriterien der Integration erfüllt, ist ein Rückfall in die Duldung und somit ein Rückfall in den prekären Sozialleistungsbezug und die erneute gesellschaftliche Marginalisierung quasi unausweichlich.

Fallbeispiel IV: Paar mittleren Alters aus Serbien

Wieder anders verhält es sich bei einem serbischen Paar (Mann und Frau) mittleren Alters: Die Frau ist Analphabetin und besucht erst seit Januar 2023 – dem Beginn der Dauer ihres 18-monatigen Aufenthaltstitels – einen Alphabetisierungs- und Sprachkurs. Psychische Erkrankungen erschweren zudem eine dauerhafte Berufstätigkeit. Da der Reisepass vorliegt und eine Abschiebung nach Serbien aufgrund ihrer psychiatrisch bescheinigten Erkrankungen und ihrer kleinen Kinder nicht durchführbar ist, bestand schon vor Eintritt in den Chancen-Aufenthalt kein Arbeitsverbot mehr. Dennoch ist es unrealistisch, dass sie innerhalb der 18 Monate das Sprachniveau A2 erreicht oder den schriftlichen „Leben in Deutschland“-Test besteht, der schriftlich und in deutscher Sprache zu absolvieren ist.9 Die Doppelbelastung aus Arbeitssuche und Sprachkurs, insbesondere als mehrfache Mutter, verschärft die Situation.

Die Betroffenen standen bereits vor erheblichen Integrationshindernissen: Analphabetismus, fortgeschrittenes Alter und jahrelange Arbeits- und Bildungsverbote, da der Reisepass aus Serbien lange nicht beschafft werden konnte. Durch den Übergang in den Leistungsbezug des Jobcenters im Zuge des Chancen-Aufenthaltstitels wurde auch die Arbeitsvermittlung wahrscheinlicher da gezielte Unterstützung bei der Jobsuche und Qualifizierung die Chancen auf nachhaltige Integration verbessert.10 Doch die Anforderungen – insbesondere das Sprachniveau A2 sowie das Absolvieren des Integrationskurses – sind für sie innerhalb der 18 Monate kaum zu erfüllen, da zunächst der Alphabetisierungskurs absolviert werden muss.

Der Fall zeigt, dass trotz vorhandener Regelungen weitere strukturelle Anpassungen nötig sind, um realistische Integrationschancen für benachteiligte Gruppen zu gewährleisten. Auch wenn der Einstieg in das Chancen-Aufenthaltsrecht nach §104c AufenthG selbst für vulnerable Gruppen formal leicht zu erreichen ist, da die Voraussetzungen für die Erteilung vergleichsweise niedrigschwellig sind, verdeutlicht der Fall die Spannung zwischen rechtlichen Integrationsanforderungen und der Lebensrealität dieser Gruppen: Jahrelange Arbeitsverbote, Analphabetismus oder psychische Erkrankungen machen die Erfüllung der Kriterien des Chancen-Aufenthaltsrechts (§104c AufenthG) und des anschließenden §25b Bleiberechts oft sehr unwahrscheinlich – trotz formaler „Chance“ und hohem Eigenengagement während der 18 Monate.

Zwar ermöglicht das Chancen-Aufenthaltsrecht den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Integrationsmaßnahmen, doch die rigiden zeitlichen und sprachlichen Vorgaben (A2 Niveau innerhalb von 18 Monaten) ignorieren ungleiche Startbedingungen. Denn eine mehrfache Mutter mit Alphabetisierungsbedarf und psychischen Vorerkrankungen kann weder die Sprachhürden noch den „Leben in Deutschland“-Test in dieser Frist bewältigen – und in vielen Fällen auch keine überwiegende Lebensunterhaltssicherung gewährleisten, die der § 25b AufenthG vorsieht. Gleichzeitig zeigen die praktischen Erfahrungen, dass die bestehenden Härtefallregelungen – wie § 25b Absatz 3 AufenthG, der bei körperlichen, geistigen oder seelischen Erkrankungen, Behinderungen oder Altersgründen von Sprach- und Integrationsanforderungen absieht – in der behördlichen Praxis oft zu restriktiv ausgelegt werden. Für viele vulnerable Gruppen, insbesondere Personen mit bildungsfernen Biografien oder komplexen psychosozialen Belastungen, erweisen sich die standardisierten Kriterien damit weiterhin als unüberwindbare Hürde. Das Aufenthaltsrecht bietet zwar theoretische Ausgleichsmechanismen, doch fehlt es an verbindlichen Umsetzungsstandards, die den besonderen Bedarfen dieser Personen tatsächlich gerecht werden.


Fazit anhand einer argumentativen Kurzübersicht der Fallbeispiele


Fallbeispiel I - Junge Frau aus Tschetschenien (Arbeitserlaubnis trotz Duldung als Integrationstreiber): Frühzeitige Integration durch Dokumentenzugang ermöglicht erfolgreiche Teilhabe: Der Fall steht exemplarisch für die Bedeutung frühzeitiger Passbeschaffung und Arbeitserlaubnis. Die unkomplizierte Umsetzung des Chancen-Aufenthaltsrechts zeigt, dass, wenn Behörden frühzeitig Identitätsklärung ermöglichen und Restriktionen (wie Arbeitsverbote) abbauen, Geflüchtete schnell Zugang zu Bildung, Arbeit und Spracherwerb finden können. Passbeschaffung sollte also über positive Anreize und Angebote gefördert und (Arbeitsmarkt-)Integration von Beginn an ermöglicht werden – statt beides durch jahrelange Duldungen und Drohungen von Behördenseite zu blockieren.

Fallbeispiel II - Junger Mann aus dem Iran (zur Ambivalenz der Identitätsklärung): Der Fall zeigt, wie bürokratische Hürden direkte Bleiberechte für langjährig Integrierte behindern können. Trotz einer erfolgreichen Bildungskarriere, guter Sprachkenntnisse und beruflicher Integration wurde dem jungen Mann der direkte Übergang in den §25a-Aufenthaltstitel verwehrt. Das Chancen-Aufenthaltsrecht fungiert hier als „Reparaturinstrument“, das in solchen Fällen Abhilfe schafft. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass integrationsfördernde Regelungen priorisiert werden müssen, anstatt junge Menschen in ständiger Angst, Ungewissheit und Perspektivlosigkeit zu halten. An dem Fall offenbart sich außerdem eine grundlegende Problematik der Duldungsspirale: Denn einerseits verlangt das Aufenthaltsrecht die Mitwirkung an der Identitätsklärung (§48 AufenthG) und stellt diese als Voraussetzung für Integration dar. Gleichzeitig schafft die Passbeschaffung die rechtliche Grundlage für eine Abschiebung – eine Zwickmühle, die der Chancen-Aufenthalt für die Dauer der 18-Monats-Frist aufhebt. Scheitern Personen jedoch an den Erfüllungskriterien und fallen in die Duldung zurück, werden sie bei geklärter Identität in der Regel sofort abschiebbar. Im geschilderten Fall konnte der Mann seinen Pass über die iranische Botschaft beschaffen, ohne abgeschoben zu werden, da er über den Chancen-Aufenthalt in einen dauerhaften Aufenthalt nach §25a wechseln konnte.

Fallbeispiel III - Armenischer Mann (Passbeschaffung als Problem): Auch dieser Fall zeigt, wie rigide Identitätsklärungsvorgaben integrationswillige Menschen mitunter in prekäre Situationen zwingen – selbst bei langjährigem Aufenthalt, Arbeitsplatz und familiärer Verwurzelung. Für uns steht er für die Forderung, subjektive Unzumutbarkeit bei der Passbeschaffung stärker anzuerkennen (z. B. bei Wehrdienst-Konflikten) und humanitäre Ausnahmen zu schaffen. Die Identitätsklärung sollte nicht über die tatsächlichen Integrationsbemühungen gestellt, sondern parallel ermöglicht werden – ähnlich wie der Chancen-Aufenthalt dies in einer eng begrenzten Frist erstmals erlaubt. Denn aus Sicht des Flüchtlingsrats Sachsen-Anhalt wirft die gesetzliche Priorisierung der Identitätsklärung vor humanitären oder integrationspolitischen Erwägungen Fragen der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 III GG) auf, insbesondere wenn sie langjährige Integrationsleistungen faktisch entwertet. Zwar ist diese Priorisierung durch den Gesetzgeber explizit angelegt und wäre lediglich durch eine Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht korrigierbar, doch zeigt die Praxis, dass subjektive Unzumutbarkeiten in der behördlichen Umsetzung zu oft unberücksichtigt bleiben. Dies führt zu einer De-facto-Härte, die aus unserer Sicht mit dem integrationspolitischen Zweck des Aufenthaltsrechts in Spannung steht, da es allzu häufig dazu führt, dass viele lieber über Jahre in der Duldung verharren, als den Schritt der Identitätsklärung zu gehen, der eine Integration formal ermöglichen könnte. Ein möglicher Lösungsansatz liegt für uns in der Gesetzesstruktur des Chancen-Aufenthalts selbst: Er schafft einen Rahmen, in dem Identitätsklärung und Integration parallel verlaufen können, da Menschen trotz Offenlegung ihrer Identitäten vor Abschiebungen geschützt sind.

Fallbeispiel IV - Serbisches Paar mittleren Alters (vulnerable Gruppen, inhärente Ungleichheiten bei den Erfüllung der Kriterien sollten von vorn herein bedacht werden): An diesem Fall zeigt sich, wie standardisierte Integrationsanforderungen – wie pauschale Sprachanforderungen und enge Zeitvorgaben – die Lebenswirklichkeiten vulnerabler Gruppen teilweise ignorieren. Menschen aus bildungsfernen Schichten, Ältere oder gesundheitlich Beeinträchtigte werden bei der Erfüllung der Integrationskriterien strukturell benachteiligt. So schließen die pauschalen Sprachanforderungen innerhalb der kurzen Fristen Personen mit Analphabetismus, psychischen Erkrankungen oder geringer Vorbildung aus – selbst wenn sie sich nachweislich integrieren und ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern könnten. Dies offenbart ein grundlegendes Problem: Das Gesetz soll Integration fördern, verlangt aber Voraussetzungen, die ohne frühere Unterstützung (z. B. Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt) kaum nachholbar sind. Es zeigt, wie strukturelle Defizite (z. B. langjährige Passlosigkeit durch behördliche Hindernisse) und mangelnde Flexibilität vulnerablen Gruppen trotz formaler „Chancen“ eine echte Perspektive verwehren. Der Chancen-Aufenthalt reproduziert so bestehende Ungleichheiten, da sein Erfolg maßgeblich von behördlichen Vorentscheidungen (Arbeitsverbote, Bildungsblockaden etc.) abhängt – und davon, inwiefern Integration bereits vor Eintritt in den Chancen-Aufenthalt ermöglicht wurde.


Abschließendes Fazit: Forderungen des CAST-Projektteams für ein inklusiveres Bleiberecht


Die vier geschilderten Fallbeispiele verdeutlichen die Ambivalenz des Chancen-Aufenthaltsrechts, wie sie sich in unserer Beratungs- und Begleitungsarbeit immer wieder zeigt: Während es einerseits eine Brücke aus der Duldung schaffen kann, wobei frühzeitige Arbeitserlaubnisse und die Möglichkeit der Passbeschaffung oft der Schlüssel sind, offenbart das Gesetz in anderen Fällen systematische Defizite, die einen erfolgreichen Übergang ins Bleiberecht für viele Langzeitgeduldete verhindern.

Insbesondere für vulnerable Gruppen, wie Analphabet:innen, Traumatisierte oder chronisch Kranke, erweist sich die aktuelle 18-Monatsfrist unserer Beratungs- und Begleitungserfahrung häufig als schwierig bis kaum einhaltbar. Ebenso überfordert sie Menschen, die jahrelang durch Arbeitsverbote von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen waren – die Gründe dafür variieren je nach Einzelfall stark. In der Konsequenz stellt die parallele Bewältigung von Spracherwerb, Arbeitsmarktintegration und Identitätsklärung unter erschwerten Vorbedingungen aber eine teils kaum zu bewältigende Hürde dar.

In diesem Zusammenhang plädiert das CAST-Projektteam, um das Gesetz gerechter umzusetzen und seinen integrationspolitischen Anspruch auch für benachteiligte Gruppen zu erfüllen, auch für eine differenziertere Ausgestaltung der zeitlich begrenzten Erfülllungsfristen. Zwar gibt die Struktur des Gesetzes klare Kriterien für Identitätsklärung und Arbeitsmarktintegration vor, doch individuelle Hürden werden hierbei unserer Meinung nach zu wenig berücksichtigt. Für vulnerable Gruppen wie Analphabet:innen, Traumatisierte oder Menschen mit langjährigen Arbeitsverboten sollte es daher die Möglichkeit einer individuellen Verlängerung geben, analog zu den Härtefallregelungen in §25b AufenthG.11

Gleichzeitig bleibt die Passbeschaffung auch im Rahmen des Gesetzes ein zweischneidiges Schwert: Zwar ermöglicht sie formal das Bleiberecht, setzt Betroffene aber weiterhin einem existenziellen Risiko aus, sollten sie trotz Offenlegung ihrer Identität an den Kriterien des Chancen-Aufenthalts scheitern und dadurch nach Ablauf der Frist zurück in die Abschiebbarkeit fallen.

Insgesamt bleibt das Chancen-Aufenthaltsrecht aus unserer Sicht also ein wichtiges, aber unvollendetes Projekt: Es bietet zwar eine Chance, doch zu oft scheitern Betroffene an bürokratischen Hürden, starren Fristen und mangelnder Flexibilität. Eine Reform sollte diesen Widerspruch auflösen und differenzierte Kriterien, wie individualisierbare Härtefallregelungen, Fristenverlängerungen schaffen, um Integration für alle zu ermöglichen. Nur so kann das Gesetz seinem Anspruch gerecht werden und langfristige Perspektiven trotz ungleicher Vorbedingungen schaffen.

Für eine etwas allgemeinere Einordnung des Chancen-Aufenthalts und einer kritischen Einordnung von dessen bisheriger Umsetzung in Sachsen-Anhalt – lesen Sie gerne hier weiter.


1 Wichtig zu beachten: Während für die Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts nach §104c AufenthG noch keine vollständige Identitätsklärung (und damit kein Pass) erforderlich ist, wird dieser jedoch spätestens für den Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht nach §25a oder §25b benötigt.


2 Sprachkenntnisse nach §25b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, die für den Übergang vom Chancen-Aufenthaltsrecht (§104c) in ein dauerhaftes Bleiberecht nach §25b erforderlich sind, sind Deutschkenntnisse auf Niveau A2 (mündlich).


3 Nach § 25b Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AufenthG muss die betroffene Person ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern können. Alternativ reicht es aus, wenn aufgrund der bisherigen Schul- und Berufsausbildung, der Einkommenssituation sowie der familiären Verhältnisse zu erwarten ist, dass sie ihren Lebensunterhalt künftig selbstständig sichern wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein konkretes Arbeitsplatzangebot vorliegt oder die bisherigen Integrationsleistungen (z. B. Schulabschluss, Berufsausbildung, Sprachkenntnisse) darauf hindeuten, dass die Lebensunterhaltssicherung langfristig gewährleistet ist. Ein befristeter Arbeitsvertrag allein reicht dabei nicht aus, um eine negative Prognose zu begründen.Beim Übergang vom Chancen-Aufenthalt in den dauerhaften Aufenthalt nach § 25b AufenthG sollte die langfristige und nachhaltige Arbeitsmarktintegration besonders berücksichtigt werden – etwa durch die Teilnahme an Maßnahmen, die auf einen Berufsabschluss vorbereiten.


4 Bundesweit sind laut den Zahlen des BAMF etwa 23 % der potenziell Antragsberechtigten sind minderjährig, davon wiederum sind ca. 40 % in Deutschland geboren, was rund 10 % aller potenziell Berechtigten entspricht.


5 Paradox der Identitätsklärung: Um eine Aufenthaltserlaubnis nach §25a AufenthG zu erhalten, muss die Identität der Person durch einen gültigen Reisepass geklärt sein. Die Beschaffung dieses Passes erfordert jedoch oft die Kooperation mit den Behörden des Herkunftsstaates (z. B. über Botschaften). Genau diese Kooperation kann aber dazu führen, dass die Abschiebung der Person „vollziehbar“ wird, obwohl die Person gerade versucht, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. Der Chancen-Aufenthalt hat hier die Sicherheit für die Betroffenen geschaffen, zumindest im Rahmen der 18 Monate trotz Offenlegung der Identität vor einer Abschiebung geschützt zu sein.


6 Das Chancen-Aufenthaltsrecht wird nur einmalig für 18 Monate erteilt und kann nicht verlängert werden. Gelingt es , innerhalb des Zeitraum nicht, die Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufenthaltstitel (§ 25a oder § 25b AufenthG) zu erfüllen, endet der Aufenthaltstitel automatisch, und die Betroffenen fallen zurück in den Duldungsstatus. Es ist also wichtig, die 18 Monate konsequent zu nutzen, um die Bleibekriterien zu erfüllen, bevor die Frist abläuft.


7 Bei der Prüfung, ob eine ausländische Person ihre Passpapiere in „zumutbarer Weise“ beschaffen kann, wird die Zumutbarkeit von der Ausländerbehörde im Einzelfall anhand einer Gesamtschau der persönlichen und nationalitätsspezifischen Umstände bewertet. Eine objektive Unmöglichkeit liegt für die Behörde dann vor, wenn die Beschaffung aus tatsächlichen Gründen (z. B. gestörte Lieferketten während einer Pandemie) nicht möglich ist. Subjektive Unzumutbarkeit kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn die beantragende Person oder deren Angehörigen durch den Kontakt zu Behörden des Herkunftsstaats gefährdet wären. Solche Umstände müssten dargelegt und nachgewiesen werden, was wiederum kompliziert ist.


8 Eine Fiktionsbescheinigung gilt nur als Überbrückung, bis die ABH über den Aufenthaltstitel entschieden hat (vgl § 81 AufenthG). Die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG tritt dann ein, wenn noch vor Ablauf des Aufenthaltstitels ein Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines neuen Titels gestellt wurde. Dieser Mechanismus kann für die Behörde insbesondere dann relevant werden, wenn z.B. die Passausstellung durch die Botschaft oder die Absolvierung des Integrationstests kurz nach Ablauf der 18-Monats-Frist des Chancen-Aufenthaltsrechts erfolgt, die betroffene Person aber alle anderen Voraussetzungen erfüllt. Siehe § 81 Absatz (4): Beantragt ein Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels, gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend.


9 Der bundeseinheitliche Test „Leben in Deutschland“ soll zeigen, dass die Person über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt. Entsprechende Vorbereitungskurse für diesen Test werden als sogenannter Orientierungskurs von verschiedenen Einrichtungen angeboten. In manchen Fällen ist der Orientierungskurs Teil des Integrationskurses. Auch ohne Teilnahme an einem entsprechenden Kurs kann der Test abgelegt werden.


10 Durch die Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts nach § 104c AufenthG wechseln Betroffene aus dem Asylbewerberleistungsbezug in die regulären Leistungsstrukturen des Jobcenters (SGB II), was eine intensivere Arbeitsvermittlung und Qualifizierungsangebote ermöglicht, da sie nun dem normalen Arbeitsmarktzugang unterliegen.


11 §25b Abs. 3 AufenthG: „Von den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 2 Nummer 3 und 4 [Sprachniveau A2 und Lebensunterhaltssicherung] wird abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann.“



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