[Pressemitteilung] Leistungsentzug bei Dublin-Verfahren
Pressemitteilung, 09.05.2025
Leistungsentzug bei Dublin-Verfahren: Zur Anwendung rechtswidriger und unmenschlicher Gesetze in Sachsen-Anhalt
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V. verurteilt aufs Schärfste die seit Inkrafttreten des „Sicherheitspakets“ am 31. Oktober 2024 geltende Praxis, Geflüchteten im Dublin-Verfahren sämtliche Unterstützungsleistungen zu entziehen. Aktuelle Gerichtsentscheidungen bestätigen, dass diese Maßnahmen verfassungs- und europarechtswidrig sind.
Auch wenn es vom Innenministerium noch keinen Erlass zur Anwendung der neuen Rechtslage an die Kommunen gibt, machen einige Regionen schon eifrig davon Gebrauch – mit verheerenden Folgen für die Betroffenen wie zwei Fallbeispiele zeigen:
Fall 1: Familie in Dessau
Einer syrischen Familie, denen die Abschiebung nach Kroatien droht, werden komplett die Leistungen gestrichen. Sie werden nach der Androhung zwar nicht auf die Straße gesetzt, sollen aber für das Zimmer in der Unterkunft mehr als 600€ monatlich zahlen. „Wir dachten, in Deutschland gelten Menschenrechte für Geflüchtete“, so die fassungslosen Eltern.
Fall 2: Alleinerziehende Mutter
Ebenfalls in Dessau versuchten fünf Behördenmitarbeiter die Tür einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern zu öffnen. Auch ihr waren vorher die Leistungen nach dem neuen und umstrittenen § 1 Abs. 4 des Asylbewerberleistungsgesetz gestrichen worden. Im Rahmen der Dublinverordnung droht auch dieser Familie die Abschiebung. Trotz anhängiger Klage wurde die Räumung für Ende April angedroht. Auf die Frage nach einer Alternative hieß es nur: „Verlassen Sie Deutschland.“ Der Vorfall löste bei einem Kind großen Stress und Nasenbluten aus – die Mutter fürchtet nun eine Retraumatisierung des Kindes und verließ aus Angst vor einer Räumung die Unterkunft. Nachdem Sie das Zimmer verließ, behaupteten die Behörden die obdachlose Familie sei untergetaucht. Die Ausländerbehörde beantragte ihre Fahndung bei der Polizei und das Sozialamt verweigerte eine erneute Unterbringung nach Vorsprache.
Beide Familien haben Klage beim Sozialgericht eingereicht.
Rechtliche Bedenken gegen § 1 Abs. 4 AsylbLG
Mehrere Sozialgerichte haben den pauschalen Leistungsausschluss bereits als rechtswidrig eingestuft: Nach Auffassung des Sozialgerichts Speyer (20.02.2024) verstößt die Leistungsstreichung gegen die Verfassung. Am 17.12.2024 machte das Sozialgericht Nürnberg klar, dass es die Norm mit dem Europarecht nicht für vereinbar hält. Ähnliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsentzugs mit Europäischem Recht äußerten die Sozialgerichte in Landshut (18.12.2024), Osnabrück (18.12.2024), Darmstadt (04.02.2025),Trier (20.02.2025) und Hamburg (17.04.2025).
Die Regelung verstößt somit gegen grundlegende Prinzipien:
- Gegen die EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU), die eine Mindestversorgung garantiert
- Gegen Art. 1 GG (Menschenwürde) i.V.m. Art. 20 GG (Sozialstaatsprinzip)
- Gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum
Unser Appell an die Landesregierung
Während Bundesländer wie Rheinland-Pfalz aus Rechtsgründen auf Komplettstreichungen und Zwangsräumungen verzichten, hält Sachsen-Anhalt an der umstrittenen Praxis fest. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt appelliert daher nochmals eindringlich an Behörden, Innenministerium und Landesregierung, die rechtswidrigen Leistungskürzungen und deren gewaltsame Durchsetzung umgehend zu beenden.
„Die aktuelle Praxis ist nicht nur rechtswidrig, sondern zutiefst unmenschlich. Familien sind von Obdachlosigkeit bedroht und zusätzlichen massiven Stress ausgesetzt. Die Landesregierung und alle Behörden müssen menschenrechtliche, verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben beachten“, so Martina Fuchs, Sprecherin des Flüchtlingsrats.
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt steht für Rückfragen und Informationen gerne zur Verfügung: Martina Fuchs | info@fluechtlingsrat-lsa.de | 0391 50549613