[Stellungnahme] Empfehlungen des bundesweiten Bleiberechtsnetzwerkes der Flüchtlingsräte zum Übergang vom Chancen-Aufenthaltsrecht ins Bleiberecht


Das Bleiberechtsnetzwerk der Landesflüchtlingsräte besteht aus Berater:innen, die Schutzsuchende regelmäßig zur Aufenthaltssicherung und -verfestigung bundesweit beraten.

Die folgenden Empfehlungen sind Rückschlüsse aus aktuellen Praxiserfahrungen von der Beratung einer Vielzahl von Schutzsuchenden am Übergang vom Chancen-Aufenthaltsrecht (§ 104c AufenthG) in ein dauerhaftes Bleiberecht (§ 25a/b AufenthG).

Die Empfehlungen umfassen sowohl Klarstellung durch Anwendungshinweise als auch Gesetzesänderungen und sind entsprechend an Entscheidungsträger auf Landes- sowie Bundesebene gerichtet


Empfehlungen:

  • Konstruktive Anwendung von Fiktionsbescheinigung (FB) bei Erfolgsperspektive
  • Rückfall in Duldung: Anrechnung von Vorduldungszeiten
  • Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO): Keine Wiederholung; einheitliche Prüfstandards (§25b AufenthG)
  • Ausnahmemöglichkeit bei den Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§25b AufenthG)
  • Lebensunterhaltssicherung: „Überwiegend“ durch Erwerbstätigkeit; „vorübergehender“ unschädlicher Leistungsbezug (§25b AufenthG)
  • Ausnahme von Lebensunterhaltssicherung bei berufsvorbereitenden Maßnahmen (§25a AufenthG)
  • Identitätsklärung/Passbeschaffung: Gute Beratung; Stufen-Modell konstruktiv anwenden; Zusicherung ermöglichen
  • Individuelle Beratung/Unterstützung als maßgeblicher Erfolgsfaktor

1. Konstruktive Anwendung von Fiktionsbescheinigung (FB) bei Erfolgsperspektive

Praxisbeispiel 1: In einem Landkreis werden FB pauschal für maximal drei Monate erteilt, selbst wenn bereits bekannt ist, dass der nächste Termin für einen Deutschkurs aufgrund begrenzter Kapazitäten erst vier Monate nach Ablauf des Chancenaufenthaltsrechts liegt. Dies betrifft insbesondere alleinerziehende Personen, da die Verfügbarkeit von Deutschkursen mit Kinderbetreuung oder zu geeigneten Zeiten sehr begrenzt ist. Dadurch entsteht erheblicher Druck auf die Betroffenen und Probleme mit Arbeitgebern, die kurzfristige FB oft nicht anerkennen und daher eine Weiterbeschäftigung verweigern.

Praxisbeispiel 2: In einer Stadt werden FB pauschal auf maximal einen Monat befristet. Oft gelingt es der Ausländerbehörde nicht, Übergangsanträge bis zum Ablauf der FB zu bearbeiten. Wenn die FB abgelaufen ist, gibt es weder eine Entscheidung noch Termine zur Verlängerung der FB. Arbeitgeber springen ab und Beschäftigungsverhältnisse gehen verloren. Eigentlich war die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung bereits erfüllt, geht jedoch durch den Jobverlust verloren.

Empfehlung:

  • Klarstellung durch Anwendungshinweise (AHs): FB dürfen regelmäßig mind. 6 Monate ausgestellt werden, damit
  1. Behörden genügend Zeit für die Prüfung haben,

  2. Arbeitgeber:innen nicht verunsichert werden,

  3. anstehende Testtermine absolviert werden können und

  4. auf die Ausstellung erfolgreich beantragter Zertifikate/Identitätsdokumente/Pässe gewartet werden kann.

(vgl. im Übrigen einzelne Landesregelungen zur Erteilung FB für 12 Monate für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine nach Antrag § 24 AufenthG sowie Landesregelung in den aktualisierten AHs zum Chancenaufenthaltsrecht aus NRW vom 25.08.2024 (Punkt 2.2c)).


2. Rückfall in Duldung: Anrechnung von Vorduldungszeiten

Praxisbeispiel: Die Ausländerbehörde hat bei einem Austauschtreffen darüber informiert, dass die Vorduldungszeit bei einem Rückfall in Duldung nach dem Chancenaufenthalt als unterbrochen gilt und wieder von Null beginnt bzw. die Anrechnung von Vorduldungszeiten nicht möglich ist. Dies ist maßgeblich für den evtl. späteren Zugang zum Aufenthaltstitel für gut integrierte Jugendliche und junge Erwachsene sowie zur Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung.

Empfehlung:

  • Klarstellung AHs: Duldungszeiten vor dem Chancenaufenthaltsrecht sollten im Falle eines erfolglosen Übergangs und Rückfalls in Duldung weiterhin als Vorduldungszeit (vgl. §§ 25a, 60c, 60d AufenthG) anrechnungsfähig sein.

3. Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO): Keine Wiederholung; einheitliche Prüfstandards (§25b AufenthG)

Praxisbeispiel 1: Es werden – nebst unterschriebenem formlosem Bekenntnis – zusätzlich Wissensfragen gestellt und unangekündigt ein mündlicher Test mit zahlreichen Fachfragen zu Politik und Gesellschaftsordnung durchgeführt, obwohl alle anderen Voraussetzungen vorliegen und der Test "Leben in Deutschland" bereits bestanden wurde.

Praxisbeispiel 2: Erfolgte bei Erteilung des Chancenaufenthaltsrechts das Bekenntnis zur FDGO „nur“ mittels formloser schriftlicher Erklärung, wird das Bekenntnis zur FDGO nochmal unvorbereitet nachgeholt mittels mündlicher Kurzbefragung (Standardfragen). Einige Personen sind durchgefallen und der Übergang wurde deswegen abgelehnt.

Empfehlungen:

  • Klarstellung AHs: Das Kriterium „Bekenntnis zur FDGO“ gilt beim Übergang pauschal als erfüllt, wenn ein Chancenaufenthaltsrecht vorher erteilt worden war.
  • Klarstellung AHs: Bundesweite Standards, wann bzw. unter welchen Umständen eine Befragung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung erfolgen darf. Wenn eine Befragung stattfindet, sollte sie wg. des A2-Niveaus nur mündlich und durch öffentlich bekannte Standardfragen ähnlich dem Test „Leben in Deutschland“ erfolgen.

4. Ausnahmemöglichkeit bei den Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§25b AufenthG)

Praxisbeispiel 1: Familie mit drei Töchtern, die jüngere Tochter hat eine anerkannte Schwerbehinderung und wird von ihrer älteren Schwester in Vollzeit gepflegt, sie lässt eine Pflege durch andere Personen nicht zu. Die ältere Tochter ist außerdem Betreuerin für ihre psychisch dauerhaft erkrankte Mutter. Das Chancenaufenthaltsrecht lief für die Familie 2024 aus. Für die Tochter mit der Schwerbehinderung wurde rechtzeitig ein Folgetitel gem. § 25a AufenthG beantragt. Die Ausnahmeregelung Abs. 3 gilt aber nur für Lebensunterhaltssicherung und Sprachnachweis und nicht für den Test „Leben in Deutschland“. Sie wird den Test behinderungsbedingt nicht schaffen, voraussichtlich krankheitsbedingt auch die Mutter nicht.

Praxisbeispiel 2: Auch für geflüchtete Personen mit geringer Vorbildung bzw. Analphabetismus erweist sich der Test "Leben in Deutschland" – so wie auch der erforderliche Sprachnachweis – im Kontext der kurzen Einmalfrist (18 Monate) als eine große Hürde, die regelmäßig nicht erreicht werden kann.

Empfehlungen:

  • Klarstellung AHs: Auch von der Voraussetzung Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (bzw. Test "Leben in Deutschland") soll wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung abgesehen werden (vgl. § 9 Abs. 2 S. 2 AufenthG).
  • Klarstellung AHs: Auch bei geringer Vorbildung bzw. Analphabetismus können Ausnahmen vom Test "Leben in Deutschland" und/oder Sprachnachweis gemacht bzw. wenigstens eine FB mit besonders langer Gültigkeit ausgestellt werden.

5. Lebensunterhaltssicherung: „Überwiegend“ durch Erwerbstätigkeit; „vorübergehender“ unschädlicher Leistungsbezug (§25b AufenthG)

Praxisbeispiel: Alleinerziehende Frau aus Russland, drei Kinder (14, 10, 3 Jahre), Deutsch C1, anerkannter Schulabschluss, Zielberuf Rechtsanwaltsfachangestellte, derzeit Helfertätigkeit 6,5 Std. am Tag (Textilpflege), weil die aktuelle Lebenssituation keine Ausbildung ermöglicht. Ihr Antrag auf Folgetitel gem. § 25b AufenthG wurde abgelehnt, weil ihr Einkommen nur ca. 30% des Lebensunterhaltes der gesamten Bedarfsgemeinschaft deckt. Dabei werden weder Kindergeld noch Unterhaltsvorschuss mit angerechnet („Einkommen durch Erwerbstätigkeit“). Zudem wurde ein Antrag auf § 25a AufenthG für den Sohn (14) abgelehnt wg. verfehlter Versetzung in die nächste Klassenstufe. Die Schwierigkeiten in der Schule sind auf den prekären Aufenthalt seit vielen Jahren, Trennung der Eltern, Umzug in eine neue Stadt und Schulwechsel zurückzuführen.

Empfehlungen:

  • Gesetzesänderung: Bei Berechnung der „überwiegenden“ Lebensunterhaltssicherung (vgl. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG) sollte die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gem. § 2 Abs. 3 Satz 2 unschädlich sein (bzw. „durch Erwerbstätigkeit“ streichen)
  • Klarstellung AHs: Ein „vorübergehender“ unschädlicher Leistungsbezug (vgl. § 25b Abs. 1 Satz 3 AufenthG) kann u.U. mehrere Jahre andauern (vgl. Landesregelung in den aktualisierten AHs zum § 25b AufenthG aus Nds. vom 20.01.2025 (Punkt 4.4.3))

6. Ausnahme von Lebensunterhaltssicherung bei berufsvorbereitenden Maßnahmen (§25a AufenthG)

Es besteht im§ 25a AufenthG aktuell keine Ausnahmeregelung bei der Lebensunterhaltssicherung für junge Erwachsene, die staatlich geförderte Berufsvorbereitungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Sprachkurse, andere Schulformen sowie gesetzlich geregelte Freiwilligendienste besuchen, obwohl diese sich oft im Einzelfall in Hinblick auf eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration als höchst sinngemäß erweisen.

Empfehlungen:

  • Klarstellung AHs: Beim Besuch von Berufsvorbereitungs- und weiteren Qualifizierungsmaßnahmen soll von der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden (vgl. Anwendungshinweise aus NRW zum § 25a AufenthG vom 26.06.2024 (Punkt 1.2)).
  • Gesetzesänderung: Ausnahmeregelung analog zur § 25b Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AufenthG im § 25a AufenthG aufnehmen.

7. Identitätsklärung/Passbeschaffung: Gute Beratung; Stufen-Modell konstruktiv anwenden; Zusicherung ermöglichen

Die Beratungen der Ausländerbehörden beschränken sich in der Regel auf Rechtsbelehrung. Nur ausnahmsweise werden Beratungen zu konkret objektiv möglichen und subjektiv zumutbaren Mitwirkungshandlungen gewährleistet. Dafür haben die Behörden aber auf Grund ihrer administrativen und organisatorischen Überlegenheit oft den Informationsüberhang (u.a. erhalten sie regelmäßig aktualisierte Informationen und Hinweise zum Passverfahren einzelner Asylherkunftsländer vom BMI).

Zudem wird das sog. „Stufen-Modell““ in der Entscheidungspraxis nur selten angewendet. Weiter ist die Anwendung typisch einseitig, in dem es den Vorrang der Passpflicht unangemessen verstärkt. In der Umsetzung hebelt das Stufen-Modell somit die Möglichkeit aus, einen Aufenthalt im Ermessen zu erhalten, wenn kein Pass vorliegt (vgl. §§ 25a Abs. 6 / 25b Abs. 8 AufenthG).

Inhaber:innen des Chancenaufenthaltsrechts trauen sich oft aus Angst vor Abschiebung nicht, einen Pass zu beschaffen, selbst wenn es möglich wäre, weil der Übergang mit vielen Fallgruben verbunden ist und die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht garantiert werden kann.

Praxisbeispiel: Einige Ausländerbehörden lassen Personen, die alle anderen Voraussetzungen von § 25b AufenthG erfüllen, einen bedingten Antrag stellen und eine Zusicherung bekommen, dass bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage im Fall der Passvorlage eine Erteilung von § 25b AufenthG erfolgen wird („Zug-um-Zug“-Regelung).

Empfehlungen:

  • Klarstellung AHs: Ausländerbehörden sollen in Verfahren zur Beschaffung von Identitäts- und Passdokumenten möglichst konkret und individuell beraten – ggf. kollaborativ mit örtlich kompetenten Beratungsangeboten.
  • Klarstellung AHs: Der Hinweis auf das Stufen-Modell sollte verdeutlicht werden. Bei Anwendung sollen die Behörden dazu angeregt werden, vorliegende Beweis- und Erkenntnismittel in einem Verwaltungsvorgang zu prüfen.
  • Klarstellung AHs: Im Kontext der Beantragung von Folgetiteln bzw. Spurwechsel- und Bleiberechtsaufenthalten sollen die Behörden auf die verfahrensrechtliche Möglichkeit der behördlichen Zusicherung (vgl. § 38 VwVfG) hingewiesen werden.

8. Individuelle Beratung/Unterstützung als maßgeblicher Erfolgsfaktor

In der Praxis haben sich spezialisierte Beratungsangebote für die Zielgruppe bewährt – siehe u.a. „Wege ins Bleiberecht“ in Niedersachsen, „ChancenAufenthalt in Sachsen-Anhalt", „Perspektive Bleiberecht Dresden“ in Sachsen und „Arbeitsmarkt- und Integrationsberatung für Geduldete und Gestattete“ in Hessen. Sie spielen eine entscheidende Rolle für die erfolgreiche Umsetzung von Spurwechsel- und Bleiberechtsregelungen. Neben der individuellen, langfristigen und zielgerichteten Unterstützung potenzieller Begünstigter zur Verbesserung ihrer Erfolgsperspektiven werden Ausländerbehörden entlastet. Besonders wirksam sind solche Angebote, wenn sie auf einer strukturierten Kooperation zwischen Ausländerbehörde und Beratungsstelle basieren.

Empfehlung:

  • Klarstellung AHs: Die Hinweis- und Anstoßpflichten der Ausländerbehörden auf konkrete und individuelle Beratung ausweiten.
  • Klarstellung AHs: Verstärkte Kooperation mit örtlichen (ggf. nicht-staatlichen) Beratungsdiensten anregen.
  • Finanzieller Anreiz: Gesonderte Anreize in relevanten Bundesförderprogrammen für strukturierte Kooperationsprojekte zwischen Behörden und Multiplikatoren vor Ort zur Umsetzung von Spurwechsel- und Bleiberechtsregelungen schaffen.

Zum Download unseres Empfehlungspapiers hier.



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